Samstag, 31. März 2012

Letztens gelesen (17)

Petra Hammesfahr: Das letzte Opfer. Reinbek bei Hamburg: Rowohl Taschenbuch, 2004.

Ein Krimi, mit dem ich zunächst nicht viel anzufangen wusste. Die Handlung spielt irgendwo in der westdeutschen Provinz, beginnt in den 1970ern und 80ern (demnach tummeln sich massenweise Karen, Norberts, Markos und Michaele auf den ersten Seiten), bis man schließlich in der Gegenwart ankommt. Ziemlich lange passiert nichts, stattdessen wird das stinknormale Leben der Protagonisten in einem kleinen Ort in der Nähe von Köln beschrieben. Besonders beklemmend wirkt die Situation einer der Hauptfiguren, der als Kind alle Türen aufzustehen schienen, bis eine Begebenheit, die sie selbst nicht verschuldet hat, ihr alles verbaut. Der extrem blutige Prolog und das Wissen, dass sich hinter der beschriebenen spießbürgerlichen Kulisse Grauenhaftes versteckt, hält trotz der sich sehr ziehenden ersten Kapitel die Spannung. Wie am Ende schließlich alle Fäden zusammen kommen und (fast) nichts so ist wie es schien ist genial.

Freitag, 30. März 2012

Lieblingsblogs (03)

Mein Lieblingsblog im März ist Lulastic and the Hippyshake, in dem eine junge Frau über ihre zwei anstehenden Großprojekte schreibt. Erstens: Kind kriegen und großziehen. Zweiten: Haus kaufen und renovieren. Die Familie lebt in London, wo sie im Süden der Stadt kürzlich ein altes Haus gekauft haben, das aufgemöbelt werden muss. Die Blogautorin und ihr Mann sind Flohmarkfreaks und statten ihr Heim ausschließlich mit gebraucht erstandenen Möbeln, Teppichen, Vorhängen, Küchengeräten aus. Außerdem haben sie ein Faible für untapezierte, nicht verputzte Wände - was ziemlich freakig aussieht. Nebenbei gehen sie gerne auf politische Demonstrationen und das Kind, Himmels Willen, ist auch schon über eins und WIRD NOCH GESTILLT!!! Den Blogtitel, für den sich die Autorin entschied, muss ich wohl nicht weiter erklären. Viel Spaß beim Lesen!

Donnerstag, 29. März 2012

Letztens gelesen (16)

Robert Gernhardt: Später Spagat. Frankfurt / Main: Fischer Taschenbuch, 2008.

Robert Gernhardt ist, zusammen mit Erich Fried, einer meiner Lieblingsdichter. Es gibt kaum eine Zusammenstellung seiner Bücher, die ich nicht gut finde, bei der ich beim Lesen nicht laut auflache, staune über seine Sprachfertig- und Gewitztheit. Dass man so schreiben kann! Sein letzter Gedichtband, Später Spagat (der Dichter starb 2006 in Frankfurt am Main) steht seinen Vorgängern in nichts nach. Was diesen letzten Band besonders macht, ist, dass Gernhardt sich in einigen der abgedruckten Gedichten mit dem Krebs, mit dem er kämpfte und dem er erlag, auseinandersetzt. Das tut er, wie er auch sonst seine Gedichte schreibt, mit einer sprachlichen Genauigkeit, Gewalt, Gewindigkeit, und hier zudem noch Ehrlichkeit, die nicht die Schmerzen, nicht die Angst, die Angst vor dem Tod auslässt - dass es einen sprachlos lässt.

Mittwoch, 28. März 2012

Du'a

So, heute gibt's mal was nur für die Muslime (na gut, und alle anderen, die was damit anfangen können...). Bin über dieses wunderschöne Du'a gestolpert und wollte es teilen:

Die arabische Version:

Allahumma Anta Rabbi, la ilaha illa Anta, khalaqtani wa ana `abduka, wa ana `ala `ahdika wa wa`dika mastata`tu, a`udhu bika min sharri ma sana`tu, abu'u laka bini`matika `alayya, wa abu'u bidhanbi faghfir li, fa innahu la yaghfirudh-dhunuba illa Anta.

Übersetzt ins Englische:

O Allah, You are my Lord, there is none worthy of worship but You. You created me and I am Your servant. I keep Your covenant, and my pledge to You so far as i am able. I seek refuge in You from the evil of what I have done. I admit to Your blessings upon me, and I admit to my misdeeds. Forgive me, For there is none who may forgive sins but You.

The Prophet Muhammad said, “If somebody recites it during the day with firm faith in it and dies on the same day before the evening, he will be from the people of Paradise and if somebody recites it at night with firm faith in it and dies before the morning he will be from the people of Paradise.” (Sahih Al-Bukhari. Other reports are in An-Nasa'i and At-Tirmithi)

Dienstag, 27. März 2012

Letztens gelesen (15)

Janusz Leski / Dieter Saldecki: Janna. Bindlach: Loewe, 1989.

Es gibt Kinderbücher, die können gut und gerne auch Erwachsene lesen. Janna ist so ein Buch. Es spielt in einem polnischen Dorf der 1920er, und dreht sich um zwei verfeindete Kinderbanden; einen Ring, der magische Kräfte haben soll; ein Pferdewettrennen, das mit unlauteren Mitteln gewonnen wird; ein dunkles Geheimnis, von dem alle wissen, aber über das keiner spricht; und die ersten Boten der Moderne, nämlich ein Flugzeug und elektrisches Licht, die im Dorf Einzug halten. Ende der 1980er wurde eine deutsch-polnische TV-Serie gleichen Namens produziert, zwei Filme gibt es anscheinend auch. Lesenswert - auch für Erwachsene.

Montag, 26. März 2012

Sonntag, 25. März 2012

Letztens gelesen (14)

Rike Drust: Muttergefühle. Gesamtausgabe. München: C. Bertelsmann, 2011.

In "Muttergefühle. Gesamtausgabe" schreibt Rike Drust, wie es ihr erging, als ihr Sohn Oskar (2) zur Welt kam. Nein, wie es ihr erging, seitdem sie schwanger war, denn es geht ja vorher schon los: die Gedanken, die man sich vorher im Leben nie gemacht hätte (Gläschenbrei oder selbstgekocht? Karotte oder Pastinake?), die neuen Themen, zu denen man plötzlich Expertenwissen aufbaut (Listeriose, Babyled Weaning, Töpfchentraining), die ungewollten Ratschläge, oft in "Fragen" verpackt, die einem Fremde aufdrängen ("ist dem Kleinen nicht kalt?").

Einen ehrlichen Elternratgeber hätte sie gesucht, schreibt Rike Drust - und nicht gefunden, deshalb schrieb sie ihn selbst. Wie schön es sein kann, Mutter zu sein; wie extrem nervend ein greinendes Zweijähriges ist; wie ätzend Kinderspielplatzkonversationen sein können; was für einen Balanceakt das Leben als berufstätige Mutter mit Kleinkind bisweilen ist - davon schreibt Rike Drust witzig, locker und unterhaltsam.

Donnerstag, 22. März 2012

Letztens gelesen (13)

Patricia Cornwell: Ein Fall für Kay Scarpetta. München: Wilhelm Goldmann, Stern Krimi-Bibliothek, 2005.

Polizeireporterin war die US-amerikanische Krimiautorin Patricia Cornwell, bevor sie mit dem Krimischreiben begann. Dem Erstling Ein Fall für Kay Scarpetta (Post Mortem auf Englisch) folgte eine Serie von Krimis, die sich um die Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta als Hauptfigur drehen.

Eine Reihe unaufgeklärter Morde, ratlose Polizisten, Intrigen, politische Machtspiele, ein Einblick in das Privatleben der Ermittler - inhaltlich ist in ihrem ersten Buch alles dabei, was man sich für einen guten Krimi wünschen könnte, stylistisch passt es auch, und das Ganze ist so spannend, das Ende so unerwartet, dass es schwer fällt, dass Buch wieder aus der Hand zu legen.

Amüsant ist so manche Stelle im Buch - das Original erschien 1990 -, in der Computer als neue große technische Errungenschaft gepriesen werden; verrückt, wieviel sich in dieser Hinsicht in den letzten 20 Jahren getan hat. Peinlich hingegen sind die teilweisen groben Schnitzer, die sich die Übersetzerin erlaubt hat. "Hell no!" heißt auf Deutsch einfach nicht "Hölle, nein!", als professioneller (?) Übersetzer sollte man das wissen.

Mittwoch, 21. März 2012

Terror in Frankreich

Vor Montag

Zu Frankreich zu schreiben hatte ich schon seit einer Weile vor. Einen Artikel ueber die unsaegliche Halal-Debatte, die seit einigen Wochen durch die franzoesischen Medien geisterte (wie gewoehnlich, passend zum Vorlauf zu den anstehenden Wahlen), und ueber die man in Deutschland und Oesterreich quasi nichts hoerte, wollte ich schreiben. Und dann kam der Montag dazwischen und ueber Halal-Fleisch sprach ploetzlich keiner mehr.

Montag

Mein Wecker in Wien klingelte und waehrend ich aufstand, erschoss ein Unbekannter in Toulouse zwei kleine Jungen und deren Vater und jagte ein kleines Maedchen ueber den Schulhof, bis er sie toetete. Ich stand auf, fruehstueckte, machte das Lieschen und mich fertig fertig und wir uns auf den Weg zu Kindergarten und Arbeit und erst dort erfuhr ich davon, was an diesem Morgen, der fuer uns wie jeder Morgen ausgesehen hatte, in Toulouse geschehen war.

Schock

In Toulouse, ausgerechnet in Toulouse. Ich kenne die Stadt gut, bin oft dort gewesen, habe viele Freunde und Bekannte, die dort leben. Ein Anschlag auf eine Schule, ausgerechnet auf eine Schule. Wie kann man so kaltbluetig sein, auf kleine Kinder, ihren Vater zu schiessen? Wie grausam muss es sein, einen solchen Anschlag zu ueberleben, seine Freunde sterben zu sehen, sein Kind zu verlieren.

Angst

Und dann war es nicht irgendeine Schule sondern eine juedische Schule. Ich weiss, wie ich mich nach dem Mord an Marwa El-Sherbini gefuehlt habe, als klar wurde, dass sie wegen ihrer Religion getoetet worden war. Zu wissen, dass es dort draussen Leute gibt, die die Gruppe, zu der sie dich zaehlen, so sehr hassen, dass sie bereit sind, dich zu toeten - Ich habe in Frankreich keine juedischen Freunde, aber einige in Deutschland und ich denke an sie und ihre Angst, die meiner so aehneln muss. Der Attentaeter ist weiter auf der Flucht; Toulouse voll von Polizisten mit Waffe in der Hand und abgesperrten Strassen. Wie lange wird das gehen, wann werden sie ihn fassen?

Hoffen

Und dann, nach so und so viel Zeit, in der ich vor dem Computer, mit der Zeitung in der Hand alle Informationen zum Thema zusammengesammelt habe, ist der Gedanke, wer um Himmels Willen so etwas tut, da: "O Gott, bitte mach, dass das kein Muslim war." Einige Tage vor dem Anschlag in Toulouse wurden in Montauban, auch diese Stadt ist mir bekannt, auch dort habe ich Freunde, drei Soldaten nordafrikanischer Herkunft getoetet, ein dritter, der von den Antillen stammt, schwer verletzt. Drei Araber, ein Schwarzer, vier Juden - spricht das fuer einen rechtsextremistischen Hintergrund? Die Fallschaermjaegertruppen, denen die vier attackierten Soldaten angehoerten, waren in Afghanistan eingesetzt worden. Vier in Afghanistan kaempfende Soldaten, vier Juden - oder doch islamistisch motiviert?

Politik

Die Reaktionen der franzoesischen Politik sind wohltuend moderat. Der Schutz juedischer und muslimischer Einrichtungen wird befohlen, Sarkozy trifft sich mit Wuerdentraegern beider Religionen. Keine voreiligen Schuldzuweisungen werden getroffen, der Wahlkampf steht - fuer einen Moment - still.

Dienstag

Naim, den ich aus meiner Studienzeit in Frankreich kenne, regt sich auf: "Ist ja mal wieder typisch. Drei Araber werden getoetet, ein Schwarzer angeschossen - und keiner ruehrt sich. Erst, wenn eine juedische Schule angegriffen wird, ist die Aufregung ploetzlich gross. Wenn es in diesem Land genauso schlimm waere, wenn ein Araber oder ein Schwarzer erschossen wird wie wenn ein Jude ermordet wird, dann haetten sie diesen Anschlag auf die Schule verhindern koennen". Als einer seiner Bekannten anmerkt, dass die unterschiedliche Reaktionen seiner Meinung daher ruehrt, dass einmal Soldaten und dann Schulkinder Ziel der Anschlaege waren, ist Naim zwar immer noch sauer, aber er widerspricht nicht.

Demo

Montagabend findet in Paris ein Trauermarsch statt, an dem Tausende, viele junge, Menschen teilnehmen. Die Union der Juedischen Studenten Frankreichs (UEJF) nimmt teil und der eine oder andere franzoesische Politiker. Ein Transparent mit der Aufschrift "In Frankreich werden Juden, Schwarze und Araber getoetet" erregt Aufmerksamkeit. Neben den blau-weissen UEFJ-Plakaten und so mancher Frankreich- und Israel-Fahne entdeckt Naim Flaggen mit dem Logo der juedisch-extremistischen Jewish Defense League (JDL), die in Israel und den USA als terroristische Vereinigung verboten ist. Er schaeumt vor Wut. "Wie kann es sein, dass Delanoe an einem Schweigemarsch teilnimmt, bei dem eine Terrororganisation mitspaziert?!"

Mittwoch

Israel trauert, die vier juedischen Opfer des Taeters werden in Jerusalem bestattet, das Bild der Mutter, deren siebenjaehrige Tochter am Montag starb, kann ich kaum ansehen. Frankreich trauert, im Sueden der Republik wird einer der getoeteten Soldaten vor den Augen seiner schwangeren Frau, einer jungen blonden Frau, die Schwangerschaft ist nicht zu uebersehen ist, zu Grabe getragen. In Toulouse verschanzt sich der mutmassliche Attentaeter in einer Wohnung, die Polizei schaltet das Gas im Viertel ab und beginnt, die Anwohner zu evakuieren. Schusswechsel, eine Explosion, Verhandlungen, angeblich will er sich stellen. Wer's glaubt.

Montag, 19. März 2012

Letztens gelesen (12)

Mariama Bâ: Der scharlachrote Gesang. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 1984.

Im Roman "Der scharlachrote Gesang" erzählt die senegalesische Autorin Mariama Bâ die Geschichte von Mireille und Ousman, die sich in den 1960ern auf der Schule - ihr Vater ist Diplomat in Dakar - kennen lernen. Sie Französin, Tochter des Botschafters, er Afrikaner, aus einer einfachen Familie - alle sind gegen ihre Beziehung. Die beiden halten zusammen, setzen sich durch, gegen ihren Vater, der als Diplomat zwar viel von Völkerverständigung und den guten französisch-senegalesischen Beziehungen redet, aber "heiraten tut man den Neger nicht", und gegen seine Mutter, die sich eine traditionelle afrikanische Schwiegertochter wünscht. Sie setzen sich durch, heiraten - und die Ehe scheitert, scheitert nicht nur sondern endet in einer Tragödie.

Wie Mariama Bâ die kulturellen Unterschiede, die nicht miteinander in Einklang bringenden Werte, Mentalitäten und Lebensweisen der beiden Protagonisten und ihrer Familien und Freunde beschreibt, ist so fesselnd, dass es schwer fällt, den Roman aus der Hand zu legen. Was zu einer kitschigen Geschichte à la Fünfgroschenroman hätte verkommen können, wird unter Bâs Händen zu einer detaillierten Beschreibung der Schwierigkeiten, die entstehen können, wenn zwei Kulturen in einer Familie aufeinander treffen - und die Bereitschaft, auf den anderen zuzugehen, nicht bei allen Beteiligen gleichsam vorhanden ist.

Samstag, 17. März 2012

Das Loch

Ich war eine ganze Zeit durch die Stadt gelaufen, in einem Teil, den ich nicht gut kannte, im Labyrinth der Straßen war ich mir plötzlich nicht mehr sicher, in welche Richtung ich gehen musste, um zurück zur Hauptstraße zu kommen. Dann stand ich plötzlich vor dem Loch. Ein Lücke zwischen Häusern und der Straße, abgetrennt mit metallenen Bauzäunen und ein riesengroßes Loch. So tief wie ein Haus, so breit und weit wie mehrere Häuser. Beim Heruntersehen schauderte es mich.

Wenn plötzlich alles in sich zusammenfällt

Ich wusste, was hier vor zwei Jahren passiert war; wusste, dass die einstürzenden Gebäude zwei junge Menschen mit in den Tod gerissen hatten und fast die Gesamtheit der im Archiv gesammelten Kunstschätze und historischen Dokumente verschüttet wurde. Vor dem Loch, diesem so unglaublich großen Loch, das so groß und tief war, dass es einem schwindelig wurde, wenn man dort runtersah, wenn man sich vorstellte, dass dieses Loch vorher mit Stein und Erde gefüllt gewesen war, vor diesem Loch hatte ich noch nicht gestanden. Ich dachte an Kevin und Khalil, die hier starben, und wie es wohl ist, wenn du zu Hause sitzt, in deiner Wohnung, deinem Haus, das fest ist, immer fest war, Wand, Steine, Mauern, Türen, wo du dich sicher fühlst, und wie das plötzlich alles - wie ein Kartenhaus - in sich zusammenfällt.

Plötzlich alles weg

Ich dachte an die Freunde und Familien der beiden jungen Männer und die Ungewissheit, die sie gequält haben muss, bis schließlich doch die Leichen gefunden wurden - Meter und Meter unter den Trümmern, vergraben - irgendwo da unten, in dem, was jetzt ein Loch ist. Und wie muss es sein, zwar mit dem Leben davon gekommen zu sein, aber nichts mehr zu besitzen? Keine Kleider, Möbel, Bücher, Fotos, Dokumente, Familienerbstücke, Andenken, alles weg? Alles, was uns wichtig ist, alles auf einmal weg?

Noch einmal zurück

Einigen der Bewohner der Häuser, die noch standen, wurde angeboten, dass Feuerwehrleute, die sich noch einmal in die zusammensturzgefährdeten Häuser wagen wollten, vor dem Abriss der Gebäude die eine oder andere Habseligkeit bergen könnten. Was würde ich wählen? Was retten wollen? ? Es schauderte mich und ich wagte noch einen Blick in das Loch.

Freitag, 16. März 2012

Letztens gelesen (11)

Naim Kattan: Farewell, Babylon. Coming of Age in Jewish Baghdad. Boston: David R. Godine, 2007.

In Farewell, Babylon schreibt Naim Kattan, ein jüdischer Irako-Franko-Kanadier (oder wie nennt man das? Himmel, ist Multikulti kompliziert) über seine Jugend im Bagdad der 1940er. Damals machte die jüdische Gemeinde der Stadt 25 Prozent der Bevölkerung aus.

Bagdad - Paris - Montréal

Die Welt, in der Naim Kattan sich damals bewegte, existiert nicht mehr. Um die zwanzig Personen zählte die jüdische Gemeinde Bagdads, als die allierten Truppen unter Führung der USA in den Irak einmarschierten. Auch Kattan lebte damals schon lange nicht mehr in Bagdad. Er hatte sein Land als junger Mann verlassen, erst Richtung Paris, zum Studium an der Sorbonne; seit Mitte der 1950er lebt er in Montréal, Kanada.

Tigris-Wasser, Umm Kulthum und Kahlil Gibran

In der Geschichte seiner Jugend blickt er zurück auf eine Zeit, in der er und seine Freunde durch den Tigris schwammen; in der er die ersten Filme mit der ägyptischen Sängerin Umm Kulthum sah; in der er viersprachig (Arabisch, Französisch, Hebräisch, Englisch) aufwuchs. Er erzählt von seiner Liebe für die französische Sprache und Kultur und seinem Unverständnis, als er erfuhr, dass seinem in Bagdad unterrichtender Französischlehrer der Name Kahlil Gibran unbekannt war. Auch die fehlende Wahlfreiheit der Frauen, egal ob jüdischer, christlicher oder muslimischer Konfession, in seinem Umfeld ist Thema.

Unsichtbare Grenzen

Er berichtet vom Leben als Angehöriger einer religiösen Minderheit im neu geformten irakischen Nationalstaat; den unsichtbaren Grenzen zwischen muslimischen und jüdischen Vierteln (auch wenn man, wie Kattans Vater, Bruder und Onkel als Beamter jüdische und christliche Kollegen hatte), aber auch die Separation zwischen wohlhabenden und ärmeren Mitgliedern der jüdischen Gemeinde.

Der Anfang vom Ende

Von der Diskriminierung berichtet er; wie er und seine Freunde Bildung als Weg aus der Marginalisierung sahen; und vom Farhud-Pogrom 1941, das alle Illusionen der jüdischen Gemeinde, doch als Teil des neuen Staates anerkannt werden zu können, zerschlug. Der Farhud, so erklärt Kattan im Rückblick, war der Anfang vom Ende. Er schildert eine Zeit des Umbruchs und eine Welt, die unterging, "a homeland which caused us so much pain."

Immer noch Iraki

Als er das Land verlässt, spricht es keiner aus, aber seine Freunde und Familienangehörigen wissen, dass sie im bald folgen werden. Heute leben sie in Frankreich, den Vereinigten Staaten und in Israel. Doch sein arabisches Erbe, so Kattan, ist auch in Kanada noch ein Teil von ihm: "Even though I had changed my surroundings, my world, and my culture, I never lost touch with my background, for I found that cultures, like loves, can be added to each other without contradiction."

Donnerstag, 15. März 2012

Auslaenderfeindlichkeit im Alltag

Oder: persoenliche Erfahrungen. Oder: Wien ist anders.

Ich komme aus [einer deutschen Grossstadt]. Auslaenderfeindlichkeit, Rassismus, Islamophobie habe ich persoenlich, im direkten Kontakt mit anderen nicht bewusst erlebt. Kaum bewusst erlebt. In meiner Studienzeit in [Stadt im Osten der Republik] und in [Stadt in Frankreich] und zu Besuch in der Tuerkei hatte ich ein paar Begegnungen mit ganz besonders freundlichen - mir fremden - Zeitgenossen, die meinten, mir ihren Enthusiasmus ueber mein Kopftuch, meine Religion, mein (vermeintliches) Auslaendersein an den Kopf schleudern zu muessen. Einmal habe ich vor meiner Kopftuch- und Islam-Zeit von einer Gruppe Habescha-Jungs einen antideutschen Kommentar zu hoeren bekommen. Aber das war's. Mehr war da nicht.

Wien ist anders

Umso mehr erstaunt es mich, dass die Situation hier in Wien ganz anders zu sein scheint. Multikulti gibt's hier auch, Wien ist genauso eine europaeische Grossstadt wie London, Paris, Berlin. Dennoch haben es nur die Wiener hinbekommen, mir innerhalb von nur einer handvoll Monaten mindestens drei auslaenderfeindliche, rassistische, islamophobe Verbalattacken zu bescheren.

Situation 1 ... beschrieb ich hier.

Situation 2: Fruehmorgens an der U-Bahn-Haltestelle. Es ist - vor sechs Uhr - noch dunkel und kaum jemand unterwegs. Ich, gesundes Selbstbewusstsein, fuehle mich trotzdem sicher. Als sich eine scheinbar Obdachlose auf die Bank neben mich setzt, denke ich noch, "die arme Frau, bei dem Wetter auf der Strasse". Als sie anfaengt zu schreien und einen imaginaren Freund zu beschimpfen, tut sie mir noch mehr Leid. Bis ich auf einmal ein "Scheisszugewanderte" heraushoere und begreife, dass die Ansage an mich gerichtet ist. Ich habe das Lieschen bei mir und will nichts riskieren. Zum Glueck stehen ein paar dutzend Meter weiter mehr Leute, schnell bin ich aufgestanden und weg. Mit Verwirrten argumentiert man nicht.

Situation 3: Am spaeten Nachmittag in der Strassenbahn. Emel, das Lieschen und ich sind zusammen unterwegs zu Bekannnten. Als der Mann, vielleicht Ende Vierzig, zusteigt, starrt er uns Kopftuchtanten schon an wie Ausserirdische und laesst uns auch waehrend der Fahrt nicht aus dem Blick. Das habe ich nicht bemerkt, Emel mir spaeter gesagt. Kurz vor dem Aussteigen, er steht direkt neben uns, rotzt er, schoen laut, eine Ladung Schleim von irgendwo aus den Tiefen seines Halsnasenohrensystems nach oben. Boerks. Emel und ich schauen uns an und denken das gleiche. Wie widerlich. Die Bahn steht noch, der Mann ist schon draussen auf dem Bahnsteig und ich bin mit dem Lieschen beschaeftigt, bemerke gar nicht, was passiert, bis Emel sagt: "so ein Rassist". Wir sehen durch die Scheibe, wie er steht dort draussen und uns auf unglaublich vulgaere Art die Zunge rausstreckt und so tut, als wuerde er sich uebergeben.

Islamophob oder einfach nur ein Idiot?

Es gab noch mehr unschoene Erfahrungen, die ich in den paar Monaten, in denen ich Wien mit meiner Anwesenheit beglueckt habe, machen musste. Eindeutig rassistisch / auslaenderfeindlich / islamophoben Motiven zuordnen wuerde ich nur diese drei. Weil woher will man wissen, ob die Frau in der U-Bahn, die einen anschnauzt, "bewegst du dich jetzt mal endlich" oder der Mann auf der Strasse, der den vier Kopftuchmaedchen zuruft, "macht ihr jetzt mal langsam Platz" (und und und) nicht einfach nur unglaublich unhoeflich sind? Es gibt viele Leute, die aehnlichen diskriminierenden und degradierenden Attacken ausgesetzt sind, und irgendwann anfangen, ueberall den Auslaenderfeind zu sehen. Da muss man aufpassen, es passiert schnell, aber hilfreich ist es auch nicht.

Sonntag, 4. März 2012

Balken im eigenen Auge

“Should you become eager to mention another’s faults, recall your own.”

Muhammad (saw), überliefert nach Rafi

Samstag, 3. März 2012

Nancy Sinatra

Nancy Sinatra: These Boots are Made for Walking


Link
Zum Lesen, Mitsingen, Nachdenken: der Text