Donnerstag, 20. Oktober 2011

Es ist noch nicht vorbei

Gilad Shalit ist frei. Endlich. Aber: ist es schon vorbei?

"Endlich", war mein erster Gedanke, als ich zum ersten Mal von der bevorstehenden Freilassung Gilad Shalits hörte. Wirklich daran glauben wollte ich nicht, bis er wirklich freigelassen wurde. Jetzt ist er zu Hause, endlich. Ich moechte mir nicht vorstellen, wie es fuer ihn gewesen sein muss, ueber fuenf Jahre Gefangener der Hamas zu sein; wie es fuer seine Eltern, die Familie, seine Freunde gewesen sein muss, nicht zu wissen, wie es ihrem Sohn, Bruder, Freund geht, ob er noch lebt, ob sie ihn jemals wieder sehen wuerden. Gilad Shalit war 19 als er gefangennommen wurde, jetzt ist er 25, mehr als fuenf Jahre verloren, die er (und die Menschen, denen er fehlte) trotzdem leben musste und die er wohl nie wieder los wird - unvorstellbar.

Terroristen

Mit Gilad Shalit wurden hunderte palaestinensische Gefangene freigelassen, weitere sollen im Rahmen des zwischen Israel und der Hamas ausgehandelten Deals folgen. Auch sie werden endlich zu ihren Familien zurueckkehren koennen, die meisten jedenfalls, die die nicht von Israel ausgewiesen werden. Wer selbst in Palaestina war, weiss, wieviele palaestinensische Kinder nie ihren Vater kennen gelernt haben, weil er seit Jahren in Israel inhaftiert ist; weiss, dass kaum eine Familie einen Vater, Sohn, Bruder hat, der nicht einige Zeit in israelischen Gefaengnissen verbracht hat. Dass es sich dabei um "Terroristen" handelt, ist schnell gesagt. In so manchem Fall mag das der Wahrheit entsprechen, weil Angriffe auf Zivilisten mit der politischen Absicht, Terror zu verbreiten, Terrorismus ist. Aber so lange ich nicht weiss, wer genau im Einzelnen die Maenner und Frauen waren, die nun aus israelischen Gefaengnissen freigelassen wurden, bleibe ich solchen pauschalen Spruechen gegenueber skeptisch. Ganz einfach, weil in israelischen Gefaengnissen laengst nicht nur Terroristen sitzen. Weil nicht viel dazu gehoert, um in den Augen israelischer Behoerden als Terrorist zu zaehlen und fuer Monate, wenn nicht Jahre hinter Gittern zu verschwinden.

"Es ist noch nicht vorbei"

Bezeichnend fand ich die Reaktionen einiger meiner Freunde auf die Freilassung Shalits. "Endlich", hieß es zum Beispiel bei meinen israelischen Freunden oder ganz einfach: "Er ist wieder zu Hause" - mehr nicht, alle wussten, um was, um wen es geht, jeder hat selbst einen Bruder, Mann, Freund in der Armee und weiß, dass es jeden von ihnen haette treffen koennen. Ganz anders sahen die Kommentare einiger meiner palaestinensischer Freunde aus: "Die anderen kommen auch noch raus", hiess es da oder: "es ist noch nicht vorbei". Ist es auch nicht. Nicht aus Sicht meiner palaestinensischen Freunde, die noch immer unter Besatzung leben; die wissen, dass sie selbst, ihre Freunde oder Familie jederzeit wieder festgenommen und - wenn noetig auch ohne Gerichtsurteil - fuer Tage, Wochen, Monate, Jahre in israelischen Gefaengnissen festgehalten werden koennen.

Tel Aviv ist nicht Gaza

Fuer meine israelischen Freunde ist die Episode beendet. Gilad Shalit ist frei, er ist wieder zu Hause. Fuer ihn geht der Alltag bestimmt nicht einfach weiter (er ist auch nicht der einzige Israeli, der als missing in action gilt); aber trotzdem die Gefahr einer Entfuehrung weiter besteht, trotzdem sie vor allem von den in den palaestinensischen Gebieten eingesetzten israelischen Soldaten sicher taeglich gespuert wird (was, wie ich glaube, einer der Gruende ist, dass sie so oft gegenueber Zivilisten ueberreagieren), geht das Leben weiter. Die Gefahr ist ueberschaubar, beschraenkt auf die Stunden, Tage oder Wochen, die man im Einsatz in den besetzten Gebieten verbringt - oder zumindest glaubt man das, gibt sich der Illusion hin, dass man den Konflikt ausblenden koennte, so als laege keine 60, 70 Kilometer von den Straenden, Discos, Einkaufszentren Tel Avivs Gaza, und in die andere Himmelrichtung, die Westbank. Zu Hause, in Tel Aviv, Jerusalem, in Haifa geht das Leben weiter, und vor allem in der israelischen Hauptstadt glaubt man sich oft fern vom Konflikt. Im Grossteil der israelischen Staedte gibt es noch so etwas wie Alltag, ein normales Leben, man schafft es noch abzuschalten, auszublenden, so zu tun, als sei alles normal - was es natürlich nicht ist.

Fast normal, festgenommen zu werden

Auf der anderen Seite, in Palaestina, ist das schwieriger. Natuerlich besteht auch dort das Leben nicht nur aus Krieg und Gewalt, aber die Bedrohung ist staendiger, sie ist naeher, unmittelbarer, weniger beschraenkt in Zeit und Raum. Von hunderten und tausenden israelischen Soldaten gilt nur eine handvoll als missing in action, das Risiko, von gegnerischen Einheiten verschleppt zu werden, ist im Vergleich gering. Aus palästinensischer Sicht sieht das anders aus. Da ist es fast schon wahrscheinlicher, festgenommen zu werden. Die Kommentare meiner Freunde waren in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Fuer die, die auf der israelischen Seite leben, ist es vorbei, erst einmal zumindest, weil es zwar nicht sehr wahrscheinlich ist, dass bald ein neuer Gilad Shalit verschleppt wird, aber die Möglichkeit doch besteht - so lange der Konflikt nicht dauerhaft gelöst ist. Fuer die auf der anderen, der palaestinensischen Seite ist so oder so nichts vorbei, sondern eigentlich alles wie immer. 1000 Männer (und Frauen) mögen zwar frei sein, aber 5000 sitzen noch, und weitere werden wieder verhaftet werden. Die einen meinen, jetzt, nach der Freilassung Gilad Shalits wäre es vorbei; die anderen sind vom Gegenteil überzeugt.

Kein Verständnigung, kein Verständnis, kein Frieden

Es sind solche gegensätzlichen Sichtweisen auf ein und das selbe Thema, die eine Verständigung, die eine Voraussetzung für eine nachhaltige Lösung des Konflikts um Israel und Palästina ist, so schwierig machen. So lange die einen nur denken "endlich", während die anderen zu wissen glauben, dass "es noch lange nicht vorbei" ist, so lange kein Verständnis, keine Empathie für die Sichtweise, die Erfahrungen und den Schmerz der anderen da ist, so lange wird das auch nichts mit dem Frieden im Nahen Osten.

3 Kommentare:

conring hat gesagt…

Mit dem Frieden im Nahen Osten wird es wahrscheinlich vor allem deshalb nichts, weil es auf beiden Seiten keine Politiker gibt, die a) auf der anderen Seite irgendwelche Glaubwürdigkeit besitzen und b) die ihren jeweiligen Landsleuten ein paar, für ein Teil derselben doch eher unangenehme Wahrheiten (Jerusalem wird geteilt, keine Annexionen in der Westbank, keine Rückkehr von 1948 Geflohemen in das Territorium des Staates Israel) vermitteln können und/oder wollen.

Lieselotte hat gesagt…

So könnte man es sagen. Hinzu kommt, dass sich quasi alle direkt und indirekt involvierten Parteien weitgehend mit dem Status quo arrangiert haben und eine Änderung Verlust an Macht / Privilegien oder zumindest eine unsichere Zukunft bedeuten würde. Das will keiner und somit fällt es zur Zeit wirklich schwer, in Bezug auf Nahost Optimist zu bleiben.

Anonym hat gesagt…

Googlen Sie mal "israel terrorist female restaurant", dann finden Sie Ahlam Tamimi, eine Frau, die per Auto Selbstmordattentäter zu Anschlägen mit 15 Toten chauffierte.

Heroine's welcome selbstredend.

Bei dem Hamas-deal geht es daram, die Truppe von Damaskus und Iran loszueisen; wo es für die wegen Assad langsam zu peinlich wird.

1.000 sunnitische Militante injiziert in den Arabischen Frühling, um Abbas die Show zu stehlen und Irans Einfluss zu konterkarrieren.

Die Syrer wollen ihre Portion am liebsten sofort wieder loswerden und die Türkei hat ihr Dutzend gleich ins Geheimdiensthauptquartier verfrachtet.

Raffiniert die Zionisten, kann man nicht anders sagen.

Haben Sie die Typen gesehen, die Gaddafi gelyncht haben ? Die machen das Rennen im Arabischen Frühling.

Bilder, wie beim Lynchen von Patrice Lumumba; von Typen, die wissen, wie man einen Luftangriff bestellt - diesmal aber nicht einfach nur Söldner, sondern ein bisschen fanatisch auch von Hause aus.