Sonntag, 4. September 2011

Zehn Leben, zehn Geschichten

The Jewish Museum
London, September 2011

Das jüdische Museum London liegt in Camden Town, im Norden der Stadt. Von der U-Bahnstation Camden Town läuft man fünf, zehn Minuten durch den quirligen, hippen Stadtteil, vorbei an Sushi-Bistros, Secondhandläden, Biogeschäften, kleinen indischen Restos und dem obligatorischen Pub - bis man in einer Seitenstraße vor dem Museum steht. Gegründet wurde die Einrichtung 1932, seitdem hat es einige Umzüge, Ausbauten und Fusionen hinter sich. Neben den vier permanten Ausstellungen (zur Religion des Judentums, zu britisch-jüdischer Geschichte seit dem 11. Jahrhundert, zum Holocaust und der Welcome Gallery) werden zurzeit unter dem Titel Entertaining the Nation jüdische TV-, Musik- und Bühnen-Stars von heute und ehemals vorgestellt. Außerdem führt ein Link auf der Webseite zur Online-Ausstellung Yiddish Theatre in London.

Zehn jüdische Gesichter und Geschichten

Kostenlos zugängig ist die Welcome Gallery im Eingangsbereich des Museums, in der auf fünf großen Bildschirmen zehn jüdische Briten vorgestellt werden. Ben H., der in Polen geboren wurde, den Holocaust überlebte, danach in Großbritannien als Gewichtheber erfolgreich war, sein Land schließlich sogar zweimal während der Olympischen Spiele vertrat und heute in der holocaust education aktiv ist. Hannah, die in die Oberstufe der ältesten jüdischen Schule in London geht. Lance, der in der vierten Generation ein Familienunternehmen für geräuchterten Lachs führt, dessen Vorfahren aus Odessa stammen, und der wahnsinnig gerne mal Hummer essen würde - was ihm seine Religion aber verbietet.

Jüdische Geschichte, chinesische Kultur

Jonathan, der Journalist ist und für den Guardian und die Jewish Chronicle schreibt, dessen Mutter aus Palästina stammt, während die Familie des Vaters seit Jahrhunderten lebte, und der am Jüdischsein schätzt, das man gut nachvollziehen kann, wie andere Minderheiten in Europa fühlen. Ben S., der im East End geboren wurde, damals, als dort noch vor allem jüdische Familien lebten, der lange in Israel gelebt und in zwei israelisch-arabischen Kriegen gekämpft hat, heute in London als Taxifahrer arbeitet, und auf lange Sicht wieder nach Israel zurück will. Bing, die aus Hongkong stammt, zum Studium nach London kam, dort ihren Mann kennen lernte, zum Judentum übertrat und heute als Hausfrau ihren drei Söhnen sowohl jüdische Geschichte als chinesische Kultur nahebringt.

Flora aus Bagdad, Daniel aus Irland

Flora, deren Eltern aus Bagdad stammen, von dort nach Indien flüchteten, wo sie geboren wurde, die in den letzten Jahren 19 Marathons gelaufen ist, Urgroßmutter ist und in der jüdischen Bildungsarbeit aktiv ist. Daniel, dessen Mutter aus Irland kommt, der sich in einer jüdischen Jugendbewegung engagiert; Ellie, die eine Karriere in der britischen Armee hinter sich hat und mit klarer Stimme sagt, dass sie selbstverständlich beides ist, britisch und jüdisch, jüdisch und britisch. Und Rabbi Gluck, ein Ultraorthodoxer mit dem typischem schwarzen Hut und wallendem Bart, der nebenbei eine Patisserie führt, das Muslim-Jewish Forum mitgegründet hat und meint, dass wir - diese Gesellschaft - uns nicht auf Unterschiede fixieren sollten und dann diesen Satz sagt: "Let us celebrate what we have in common!"

Perspektivwechsel

Der Film, der die zehn Personen vorstellt, läuft 20 Minuten - und dann wieder von vorn. Auf den fünf übermannsgroßen Bildschirmen laufen gleichzeitig fünf verschiedene Ausschnitte der gleichen Szene, eine tolle Technik, die zum genauen Hingucken, Herumlaufen und Perspektivenwechseln anregt. Einziger Minuspunkt ist die schlechte Akkustik - teilweise ist kaum zu sagen, was die Protagonisten zu erzählen haben.

11 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

"das Muslim-Jewish Forum mitgegründet hat und meint, dass wir - diese Gesellschaft - uns nicht auf Unterschiede fixieren sollten und dann diesen Satz sagt: "Let us celebrate what we have in common!" "

Zum nächsten Nahostkreig werdet Ihr Euch schon alle wieder ordentlich auseinander sortieren.

Lieselotte hat gesagt…

Vielleicht irgendwelche Halbstarken nicht-so-richtig-was-über-ihre-Religion-wissenden Jugendlichen vor dem Schultor, die meinen, der Nahostkonflikt müsste jetzt zwischen jüdischen Franzosen und muslimischen Franzosen ausgetragen werden - aber nicht jemand wie Rabbi Gluck. Sie unterschätzen den Mann - und so viele andere, die im jüdisch-christlichen Dialog aktiv sind. Die haben nämlich verstanden, dass Krieg im Nahen Osten ein Konlikt zwischen Israelis und Libanesen (um mal ein Beispiel rauszugreifen) ist - und nicht zwischen Juden und Muslimen.

Anonym hat gesagt…

"Krieg im Nahen Osten ein Konlikt zwischen Israelis und Libanesen (um mal ein Beispiel rauszugreifen) ist - und nicht zwischen Juden und Muslimen."

Da sind aber auf dem Tahrirplatz andere Töne zu hören gewesen; von der Hamas ganz zu schweigen.

Rabbi Glucks Wirkungsstätte ist London, hier: er im Interview mit Richard Dawkins:

http://www.youtube.com/watch?v=VBDJgXOZqIc&feature=related

ab min 5.00

Nicht dass Sie dessen Richtung, das Chassidische Judentum mit der Neturei Karta verwechseln. Letztere halten allerdings die Moslems für die Strafe Jahwes, die sie verdient hätten, womit derzeit speziell Ahmadinejad gut leben kann.

Immer wieder sehenswert:
http://www.youtube.com/watch?v=jDEmjszLonM&feature=related

Lieselotte hat gesagt…

Weil ich, wenn ich die Lage im Nahen Osten analysieren will, die Hamas und den Mob auf dem Tahrirplatz den Job für mich machen lasse, schon klar...

Wenn die Hamas Ihnen morgen sagt, dass alle Westler verdorben sind, stellen Sie sich dann auch auf den Marktplatz und erklären der Welt, dass sie verdorben sei - hat ja die Hamas gesagt??

Anonym hat gesagt…

"die Hamas und den Mob auf dem Tahrirplatz" sind aber die, die darübher bestimmen, ob der Krieg einer zwischen Juden und Muslimen ist.

Die Hizbollah macht manchmal auf libanesisch-patriotisch, um die Christen besser erpressen zu können, was übrigens auch gelingt.

Lieselotte hat gesagt…

Die Hamas und Kumpane bestimmen nur, was wir sie bestimmen lassen. Mann, wären die froh, wenn sie hier so manchen Kommentar lesen, der genau das wiederholt, was sie schon seit Jahren predigen...

Anonym hat gesagt…

"Die Hamas und Kumpane bestimmen nur, was wir sie bestimmen lassen."

Na dann freue ich mich aber schon mal auf den Aufstand der MMM, der Moderate Muslim Majority gegen Bevormundung und Irreführung durch Extremisten.

Dass man Religionen hat, die automatisch Parteinahmen in komplexen Immobilienkonflikten beinhalten, finde ich schon ziemlich dubios. Universalistisch, alle gleich und für alle; aber dieser Fels, diese elende Geröllhalde gehört zu meinem Haufen, weil unser Prophet soundso damals ...

Wenn Hindus und Japaner und Chinesen nicht so höflich-schamkulturell verklemmte Leute wären, ich glaube, die würden sich den Bauch halten vor Lachen, über die Kapriolen der universellen Monotheismen.

Mantrik, oder so, heißt glaube ich die Lehre von heiligen Orten im Heidentum. Ich dachte, da wäre wir drüber weg.

Lieselotte hat gesagt…

"Na dann freue ich mich aber schon mal auf den Aufstand der MMM, der Moderate Muslim Majority gegen Bevormundung und Irreführung durch Extremisten."

Es gibt durchaus Stimmen, die sich gegen Hamas und Co. aussprechen. Mag sein, dass es davon noch mehr geben könnte. Ich bezweifel halt bloß, dass man mit ihrer "Und-deshalb-ist-der-gesamte-Islam-für-die-Katz"-Geschrei da hinkommt.

"Dass man Religionen hat, die automatisch Parteinahmen in komplexen Immobilienkonflikten beinhalten, finde ich schon ziemlich dubios. Universalistisch, alle gleich und für alle; aber dieser Fels, diese elende Geröllhalde gehört zu meinem Haufen, weil unser Prophet soundso damals ..."

Ja, und wo genau "im Islam" steht das? Als hinge es beim Konflikt im Nahen Osten an der Religion...

Anonym hat gesagt…

"Es gibt durchaus Stimmen, die sich gegen Hamas und Co. aussprechen. Mag sein, dass es davon noch mehr geben könnte. "

Islam ohne Feindseligkeit gegenüber dem jüdischen Staat, das wäre sicher mal einen Versuch wert.

Dass man sich AL Kuds hat von Affen und Schweinen klauen lassen (also ausgerechnet von unfrommen Juden) ist als Dauerklage langfristig auch vielleicht nicht so gut für das zeitgenössische Selbstempfinden von Menschen überhaupt in der modernen globalisieren Welt.

Jeder andere, also nicht nur Moslems, würde bei solchen Autonarrativen doch sicher auch einen Knacks bekommen.

Lieselotte hat gesagt…

Natuerlich gibt es Islam ohne Feindseligkeit gegenueber Israel, Sie Witzbold. Mag nicht ebsonders verbreitet sein, aber das ist moeglich und existent.

Und das mit den Affen und Schweinen ist auch wieder nur das staerkste Extrem, dass Sie sich da raus gegriffen haben. Es gibt jede Menge Muslime, die solche Feindbilder ablehnen. Sie praesentieren hier wieder die Meinung der ganz Radikalen als Mehrheitsmeinung und diffamieren damit alle die Muslime, die sich gegen die Uebernahme dieser Radikalen selbst wehren. Schoenen Dank auch.

Anonym hat gesagt…

Tatsächlich:
http://www.britishmuslimsforisrael.com/BMFI/Welcome.html

"Mag nicht ebsonders verbreitet sein" Testen Sie es mal aus.

"das mit den Affen und Schweinen ist auch wieder nur das staerkste Extrem" Das drastischstes Bild; von einem Koranischen Narrativ über das Judentum, das damit aber eher immer noch zentral getroffen, als ausnahmehaft überzeichnet ist.

Das Selbstempfinden des Islam als irreführungskorrigiertem Weiterglauben von den Botschaften der jüdischen Propheten ist doch zentral.

Das moslemische Liebhaben der Juden steht unter einem klaren identitären Vorbehalt. Als störrischen Letzt- und Vorletztprophetenverweigerer bleiben sie islamisch auf ihrem Irrweg in die Tierwelt.

"Es gibt jede Menge Muslime, die solche Feindbilder ablehnen."

Nicht wahr haben wollen; die Extremisten sind nicht nur lauter, krawalliger und gewalttätiger, als die Nichtextremisten, sie haben auch m.E. tatsächlich die Gesamtstoßrichtung der Koranischen Offenbarung auf ihrer Seite.

In der Logik der Offenbarung landen Sie mit einer Verweigerung im real existierenden Judentum ein Feindbild zu erblicken nur in der vordesignten Heuchlerecke.

Wegen dieser heiklen Frage gibt es doch diese ganzen absurden Verrenkungen um die Ashkenasichen Juden als Nachfahren eines nicht korrekt konvertierten Khasarenreiches, etc.; alles, um sich die Feindschaft mit Israel als "legitim" zu sichern.

"praesentieren hier wieder die Meinung der ganz Radikalen als Mehrheitsmeinung "

Ich halte die Radikalen nicht unbedingt für eine Mehrheit (noch nichtmal in Pakistan sind sie das bei Wahlen) ich sehe nur die stärkeren Battailone auf deren Seite.

Am Beispiel Libyen können Sie sehen, dass der Westen sich, angesichts durchgeknallter Operrettenmuslime wie Gaddafi, auch nicht scheut, mit Radikalen (Belhaj) wieder zusammenzuarbeiten und Syrien wird auch wohl so laufen. Der Westen wird eher sich mit den Radikalen darauf verständigen wollen, ihn in Ruhe zu lassen, um sie ggü. China in der Reserve zu haben. Auf die Nichtradikalen mag niemand bauen.

Die Nichtradikalen sind nur Spielmaterial für alle.

Aber gut, kann ja sein, dass die Nichtradikalen damit die 73. korrekte Gruppe sind, obwohl das dann nicht ganz sauber rechtgeleitet wurde von Allah, finde ich. Ich würde dann gemeinsam mit den Radikalen in der Hölle motzen.

Kann man nicht ausschließen, als Agnostiker, was übrigens emotional eine durchaus unbefriedigende Position ist. Gewißheiten fühlen sich besser an, kann ich ihnen versichern, damit sind Sie nicht allein.

Aber nur fürs gute Feeling sind wir andererseits auch wieder nicht auf der Erde, oder ?