Donnerstag, 7. Juni 2012

Radikale Spinner

Oder: Letztens bei uns im Viertel

Dass bei uns im Viertel vor der U-Bahn-Station meist ein Grüppchen Zeugen Jehovas mit ihren Zeitschriften in der Hand stehen, daran habe ich mich schon gewöhnt. Vor dem Einkaufszentrum steht oft eine neugeborene Christin und brüllt den dem Konsum Huldigenden entgegen, wie gottlos sie seien und dass sie sich bekehren sollten, das Ende sei Nahe... Manchmal steht in Nähe der Christin oder der Zeugen Jehovas auch eine Gruppe Salafis, die Flyer austeilen und mit der Konkurrenz (Christin, Zeugen Jehovas) ins Gespräch kommen. Ich habe da schon so manches Mal hitzige Debatten gesehen, aber es hat mich nie weiter tangiert (hey, falls ihr euch dann irgendwann geeinigt habt, wer Recht hat, könnt ihr ja immer noch Bescheid sagen...).

Mit dem Megaphon in der Hand

Dass in unserem Viertel eine Handvoll radikaler Spinner unterwegs zu sein scheint, daran habe ich mich schon gewöhnt. Aber als ich letztens noch schnell etwas einkaufen wollte und da vor dem Supermarkt eine Afrikanerin mit einem Megaphon in der Hand stand, durch das sie lautstark zur Bekehrung aufrief, dachte ich doch, mich tritt ein Pferd. "Accept Jesus, accept Jesus! Jesus is the way, Jesus is the truth! Accept Jesus!" Ja, so überzeugt man die Gottlosen, schon klar! Ich war so baff, dass ich nicht weiter nachgedacht habe und einen der Polizisten die ein paar Meter weiter neben ihrem Van vor dem Supermarkt standen, ziemlich fassunglos fragte, ob die das dürften, so das ganze Viertel beschallen.

"Accept Jesus, accept Jesus!"

Der Polizist zuckte nur mit den Achseln und meinte (ich glaubte einen Anflug von Ironie herauszuhören, aber vielleicht war das nur Einbildung), dass das freedom of speech sei und... Ich: "Ja ja, schon klar, freedom of speech - aber mit einem Megaphon?!" Als das Lieschen und ich aus dem Supermarkt wieder herauskamen, stand sie da immer noch: "Accept Jesus, accept Jesus! Jesus is the way, Jesus is the way! Jesus is the truth, Jesus is the truth..." Ob ihr irgendwann die Batterien ausgegangen sind?

Salafis mit Mikrophon

Und, wie um mir zu beweisen, dass die Spinner bei den anderen dieser Frau in keinem etwas nachstehen, lief ich einen oder zwei Tage später vor der U-Bahn-Station einer Gruppe Salafis über den Weg - oder sie mir. Mit einem Mikro ausgestattet, schrieen sie den Massen ihre Botschaft entgegen. Viel war zwar nicht zu verstehen (Megaphon scheint in diesem Zusammenhang das Instrument der Wahl zu sein), aber ich holte mir einen Flyer... der mir erklärte, dass wählen haram sei (Allah alleine ist Souverän), weltliche Gesetze auch (dito), Muslime nicht britisch sondern islamisch sein sollen (Nationalität ist gottlos) - schön und gut, aber was macht ihr dann noch hier?!

Professionelle Propaganda

Was mich erschreckte war, dass die Flyer super professionell aufgemacht waren, thematisch auf das Diamond Jubilee abgestimmt waren (Queen - auch haram), kein Vergleich zu vielen anderen billigen Publikationen und Flugblättern, die man aus dieser Ecke sonst kennt. Einerseits zeigt das, wie britisch diese Leute doch sind (wissen sie doch genau, auf welche Qualitäten man hier Wert legt, wie Social Marketing hier funktioniert, was andere junge Menschen ihrer Altersgruppe anspricht). Andererseits: freedom of speech and expression hin und her, aber soll man wirklich tatenlos zusehen, wie diese Leute ihre Propaganda auf solch professionelle Art und Weise unter die Leute bringen?

Es gibt eine ganze Menge von counterradicalisation-Initiativen, die in den letzten Jahren entwickelt wurden, gerade hier in Großbritannien, aber verdammt, wir brauchen noch viel, viel mehr davon!

3 Kommentare:

Stefan Wehmeier hat gesagt…

(NHC II,2,56) Jesus sagte: Wer die Welt erkannt hat, hat einen Leichnam gefunden. Und wer einen Leichnam gefunden hat, dessen ist die Welt nicht würdig.

Wer das ganze Ausmaß der systemischen Ungerechtigkeit erkannt hat, in der wir (noch) existieren, kann mit "dieser Welt" nichts mehr anfangen und muss sprichwörtlich "über den Rand der Welt fallen". Darum fürchten sich die Allermeisten bis heute vor der Auferstehung, auch wenn das Wissen längst zur Verfügung steht und es seit dem Beginn der so genannten "Finanzkrise" (korrekt: beginnende globale Liquiditätsfalle nach J. M. Keynes, klassisch: Armageddon) auch keine andere Möglichkeit mehr gibt, als die absolute Gerechtigkeit und damit allgemeinen Wohlstand auf höchstem technologischem Niveau, eine saubere Umwelt und den Weltfrieden zu verwirklichen. Die einzige "Alternative" wäre der Rückfall in die Steinzeit, denn je höher man auf der Stufenleiter der Arbeitsteilung nach oben kommt ohne eine stabile Makroökonomie, desto tiefer ist der Fall.

http://www.juengstes-gericht.net

Anonym hat gesagt…

Fundamentalisten, gleich welcher Art, religöse oder politische, sind einfach ekelhaft!

Hans hat gesagt…

Ich hab hier verschiedene Fragen und Anmerkungen:
1) Was ist NHC? Hab ich noch nie gehört und das Zitat kenn ich auch nicht. Außerdem denke ich, dass man mit Verweisen auf Heilige Schriften nur Leute ansprechen kann, die den eigenen Glauben teilen. Ansonsten muss man sich ja nicht wundern, warum die Andern die Autorität hinter der Schrift nicht anerkennen. Das ist gleich die perfekte Überleitung zu:

2) JedeR, der/die ernsthaft eine kommende Welt verkündigen will, mit aller Gesellschaftskritik, die dann darin steckt, muss akzeptieren, dass er/sie unabänderlich Teil dieser Welt ist. Ansonsten bleibt das alles Eskapismus und erreicht niemanden außer einer notwendigerweise elitären Gruppe, die sich für was Besseres hält. Es muss doch darum gehen, über die Kritik hinaus zu kommen zur Veränderung und Transformation, und das schafft man eben nur, wenn man sich selbst als Teil des "Systems" versteht und "in der Welt" lebt. Und das ist für mich das Prinzip jeder Gottesoffenbarung, die ich ernst nehmen kann: Gott kommt in die Welt, nicht um mal (ein paar) Menschen aus ihr herauszuführen, sondern um die "Welt" als solche zu erlösen (ohne dabei irgendjemanden zurückzulassen). Religiosität heißt in diesem Rahmen dann nicht Eskapismus, wie bei den Zeugen Jehovas, oder illiberaler Totalitarismus, der eine Reinigung der "Welt" durch Unterwerfung der Ungläubigen (wie bei den Salafis) fordert, sondern Hingabe und Vertrauen, dass eine Transformation und Vollendung der Welt von innen heraus möglich ist.
Dieses theologische Argument wendet sich somit gleichzeitig gegen religiös motivierte Absolutheitsansprüche und den damit verbundenen Illiberalismus. (Und das ist der Zusammenhang zur Forderung des ursprünglichen Blog posts. :-)

3) Was ich mit all dem sagen will: obwohl ich mit der Zukunftsvision einer egalitären und ökologischen nachhaltigen Welt, die Sie, Herr Wehmeier, hier vertreten, durchaus sympathisiere, frage ich mich, inwieweit Sie mit den Fundamentalisten verschiedener Colour nicht mehr zu tun haben, als Ihnen lieb sein kann. Weltfeindlich sind die Salafis auch (und im Übrigen ist "Gerechtigkeit" einer ihrer Schlüsselbegriffe, sei es in sozialer oder politischer Hinsicht). Das ist aber nicht der Weg zur Veränderung der Zustände, die Sie kritisieren, die funktioniert nur von innen heraus, nicht aus der Beobachterposition des immer Recht habenden Fundis, sondern durch persönliche Hingabe und Selbstrelativierung im Vertrauen darauf, dass Gott durch mich in der Welt Veränderung schaffen will.