Montag, 14. März 2011

Religiös gefärbte Brille

In der Frankfurter Rundschau fand sich vor einigen Tagen ein langes Interview mit einem meiner Lieblingsintellektuellen, dem Kölner Islamwissenschaftler Navid Kermani (der übrigens gerade die Martin-Buber-Rosenzweig-Medaille verliehen bekommen hat), in dem Kermani die Proteste in der Arabischen Welt, den Umsturz in Ägypten und unseren Blick auf den Nahen Osten analysierte und dabei auf einen ganz wichtigen Aspekt hinweist. Ich zitiere:

"Was in Aegypten passiert, wird bei und durch eine religioes gefaerbte koloniale Brille betrachtet. Es ging aber in Aegypten nicht um Religion. Die realen Probleme haben nichts mit einem "Aufmarsch der Gotteskrieger" zu tun. (...)

Die realen probleme Aegyptens sind Geburtenexplosion, Niedergang des Bildungswesens, Verarmung der Mittelklasse, radikaler Marktliberalismus, katastrophale Versorgungslage, patriarchalische Strukturen, Unterdrueckung der Frauen und ein Fehlen von Selbstbestimmung, von Kreativitaet, von Freiheit auf allen Ebenen, angefangen in der Grundschule bis zur Staatsspitze.

Die Religion ist dabei einer von vielen Faktoren; sie ist weder die alleinige Ursache, noch ist sie die Loesung.

Wir aber ignorieren vollstaendig alle anderen, sozialen, politischen, oekonomischen Zusammenhaenge und stellen die Ereignisse stattdessen ahistorisch in einen religioesen Sinnzusammenhang: Die sind so, weil der Islam so ist. Das ist nichts anderes als Gegen-Fundamentalismus."

7 Kommentare:

conring hat gesagt…

Liebe Liselotte,
ich halte das Bild, das Herr Kermani von der deutschen Bereichterstattung über Ägyspten zeichnet, für etwas holzschnittartig. Die deutschen Medien (vorallem das Fernsehen) haben in den ersten Tagen die ganze Sache schlicht verpennt. Danach gab es zwar das von Kermani beklagte Interpretament, dieses war allerdings nur eines unter anderen vielen Erklärungs- und Deutungsangeboten. Die deutschen Medien waren in ihrer Berichterstattung durchaus plural und sind entsprachen nicht dem monolithischen Bild, das Kermani von ihnen zeichnet. Hier wird, so meine Meinung, etwas suggeriet, das der Autor gerne sehen möchte. Bei seinen Exkurs auf die USA hätte er auch nicht nur CNN, sondern auch Fox-Newws, die mehr Zusacher hatten, erwähnen müssen. Dortens wurde die ganze Sache durch Glenn Beck in einer genialen Performance als venezulische-iranische-türkische Verschwörung gedeutet.

Anonym hat gesagt…

Tja, blöd nur, dass die Hälfte der von Herrn Kermani aufgezählten Argumente für den Niedergang direkt mit dem Islam zusammenhängen.

Das zeigt übrigens auch ihr vorangeganger Artikel "Den Islam studieren".

MfG

Belladetta hat gesagt…

Viele Menschen auf der Welt wollen sich den bestehenden Problemen, die sie zumeist selbst verursacht haben, nicht stellen und schenken lieber einem religiös-politischen Heilsbringer Glauben, der ihnen das Blaue vom Himmel verspricht. Die Ernüchterung kommt meist zu spät. Es ist schon erstaunlich, wieviele Bauernfänger unterwegs sind und auch noch Erfolg haben. Kritisch hinterfragen will gelernt sein und ist vielen wohl zu anstrengend. Leider.

Lieselotte hat gesagt…

@ Anonym: Tun sie das? Und worin genau sehen Sie den Zusammenhang mit dem Artikel "Den Islam studieren"???

Anonym hat gesagt…

Niedergang des Bildungswesens, Fehlen von Selbstbestimmung, von Kreativitaet, von Freiheit auf allen Ebenen ist doch Folge einer Religion, die für sich einen Alleinvertretungsanspruch deklariert, die sich selbst genug ist.

"Das ging noch ein bisschen weiter und lief dann darauf hinaus, dass sie meinte, ich solle doch auch den Islam studieren, wenigstens ein bisschen, das wäre wichtiger, viel wichtiger als Politik."

Man muss sich doch nur mal ansehen, was muslimisch dominierte Länder an Neuem zu Wissenschaft, Technik, Kultur beitragen. Das ist - gemessen an der Bevölkerung - arg wenig. Und das nicht erst seit gestern.

Das liegt an den Schranken, die man sich selbst im Denken auferlegt.

Lieselotte hat gesagt…

Liebe/r Anonym,

ich stimme Ihnen ziemlich zu. Nur mit einem Punkt bin ich nicht einverstanden. Dass naemlich die Religion dran Schuld sein soll.

Im Qur'an steht nicht, dass man ein mieses Bildungswesen haben muss, nicht selbstbestimmt leben soll, keinesfalls kreativ und frei sein darf.

Viele Muslime (und nicht nur Muslime) in der so genannten muslimischen Welt (und wieder: nicht nur dort) leben tatsaechlich mit so einigen auferlegten Schranken. Es mag da auch durchaus eine Verbindung zu religioesen Aspekten geben. Aber: es gibt auch genug muslimische, religioes Gegenstimmen.

Ein Beispiel: Der Islam, so wie er heute von der Mehrheit der Muslime ausgelegt wird, hat patriarchalische Strukturen. Das hat aber nicht die Entstehung eines islamischen (und zwar "islamisch" im religioesen Sinne) Feminismus verhindert. Die Leute gibt es, die werden nur viel zu wenig gehoert, und auch sie sind Islam.

Gruss
von der Lieselotte

Lieselotte hat gesagt…

Und noch was: Was leistet denn (das nicht-muslimische) Afrika heute auf den Gebieten Wissenschaft, Technik, Kultur? Jetzt auch nicht so extrem-aussergewoehlich-ueberdurchschnittlicu-superduper-ausgesprochen viel, oder? An der Religion allein kann's also nicht liegen.