Mittwoch, 10. August 2011

Was ist da los in London?


- 10. Ramadan -

Wer randaliert da in London?

Sind es, wie viele Lokalpolitiker, Sozialarbeiter und Vertreter lokaler NGOs meinen, junge Leute aus einkommensschwachen Vierteln, die am Rande der Gesellschaft leben und deren Interessen schon seit Jahrzehnten missachtet werden? Oder sind es, wie viele Politiker auf nationaler Ebene uns erklären, Kleinkriminelle und Verbrecher, denen es nicht um möglicherweise gerechtfertigte Proteste gegenüber sozialen Missständen geht, sondern die zum Plündern auf die Straße gehen? Es sieht so aus, als sei der gewaltfreie Protest gegen den Tod Mark Duggans und das Vorgehen der Polizei aus dem Ruder gelaufen und in Plünderungen und reine Lust an der Gewalt übergegangen. Aber einig ist man sich darüber nicht und vielleicht fehlt es dafür einfach noch an detaillierten Informationen darüber, was dort eigentlich geschehen ist, wer beteiligt war, wie es anfing und wie weiter ging.

Eins scheint klar zu sein: Jung sind sie, die Randalierer. Kaum einer auf den Bildern sieht älter aus als 30, 35; viele Teenager sind zu sehen; laut den Medien wurden selbst Zehnjährige von Londoner Polizeibeamten in Gewahrsam genommen. Für diese kommt bestimmt auch noch der Abenteuerfaktor mit hinzu: Mann, ist es aufregend, hier durchs Viertel zu rennen, da Steine schmeißen, hier Katz und Maus mit der Polizei spielen, dort nen Fernseher mitnehmen...

Lange ist es nicht her, dass wir hier in London Studentenproteste, die teilweise auch in Gewalt ausuferten, hatten. Vor der Hochzeit von William und Kate wurden Stimmen von extrem links laut, die ankündigten, die Veranstaltungen gewaltsam zu stören, die Vertreter der Königsfamilie und die sie schützenden Polizeibeamten attackieren zu wollen. Es gibt hier Leute, die ganz abgesehen von sozialer Ungleichheit und kleinkriminellen Machenschaften aus ideologischen Gründen protestieren und, ja, auch randalieren.

Wer randaliert nicht?

Der Großteil der Londoner, fast alle hier. Die meisten hier sind erschüttert und können nicht glauben, was dort passiert. Von den Fotos und Filmaufnahmen der Ausschreitungen zu schließen, scheint unter den Randaliern keine ethnische Gruppe zu dominieren. Viele junge black British sind auf den Bildern zu sehen, aber auch "Weiße". Junge Männer und Frauen. Gleichzeitig machen Geschichten von Nachbarn, die sich den Plünderern und Randalierern entgegen gestellt haben, die Runde. Wie zum Beispiel die türkischen Ladenbesitzer von Dalston, die ihre Läden selbst beschützen; die Frau aus der Karibik, die dem Mob entgegen schreit, was sie von ihnen hält; oder auch die bengalischen und somalischen Muslime in der East London Mosque. In Hackney setzten Muslime und Christen ein Zeichen gegen die Gewalt.

Was ist mit Facebook, Twitter und BBM?

Anders als noch bei den Ausschreitungen in den Pariser Vorstädten 2005, als soziale Netzwerkseiten wie zum Beispiel Facebook noch in den Kinderschuhen stecken, läuft jetzt ein Großteil der Kommunikation über das, was dort passiert in London und im Rest des Landes, über Facebook, Twitter und andere Webseiten. Natürlich eröffnen schon bald Spaßvögel Facebook-Gruppen wie "They can't blame Muslim for the riots. We're all at home stuffing our faces" (es ist ja immer noch Ramadan), "Youth of the Middle East rise for freedom, youth of London rise for a 42” tv", "Nando's Defence League" (eine Anspielung auf die English Defence League; Nando's ist ein beliebtes Fastfoodrestaurant), "The awkward moment when Afghanistan is safer than London" oder erklären über Kommentare, dass sie glauben, "if it was muslims, the headline would have been terrorists attack Tottenham!". Aber es gibt auch Gruppen wie diese: "Fuck rioting! Let's trash some mosques" (die verlink ich nicht - wird hoffentlich sowieso bald wieder gelöscht). BBM macht es den Randalierern leicht, sich schnell abzustimmen und auf Polizeibewegungen zu reagieren - noch leichter als damals in Paris, als "nur" gewöhnliche Handys herhalten mussten.

Wie ist die Situation zurzeit?

In London sieht die Lage je nach Viertel sehr unterschiedlich aus. Auf dem Fernsehschirm zu Hause mag das dramatischer wirken (kennen wir ja durchaus auch von anderen Konfliktsituationen...), aber ganz London brennt nicht. Von den wirklich schlimmen Ausschreitungen sind einzelne Stadtteile betroffen. Zwar wurde das Viertel, in dem die Sprachschule, wo ich heute Nachmittag unterrichtete, plötzlich auch evakuiert (was sich dramatischer anhört, als es ist: wir wurden gebeten, zu gehen), und das war in der Nähe der Bond Street, mitten im Zentrum Londons - aber bis auf geschlossene Geschäfte war in der Innenstadt alles wie immer, ganz normal. Auf dieser Seite lässt sich verfolgen, wo bis jetzt was passiert ist.

Bald auch bei uns?

Quatsch. So lange es bei uns keine Viertel gibt wie hier oder in vielen französischen Großstädten, in denen man sich auf einem Rundgang eher wie in Rumänien als in einem der reichsten Staaten Westeuropas fühlt (nichts gegen Rumänien...), so lange bleibt Randale in unseren Großstädten auf das Maximum "1. Mai-Krawalle" beschränkt.




3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Jetzt, nach Birmingham, geht's ab zwischen South Asians und Afro-Carribbeans.

Lieselotte hat gesagt…

Nein, es geht nicht "ab" zwischen South Asians und Afro-Caribbeans. Wenn es zwischen irgendwem abgeht, dann zwischen Randalierern und Polizei oder zwischen Randalierern und denen, die versuchen, ihre Nachbarschaft zu schuetzen.

Mit solchen Spruechen wie in dem Kommentar oben wird die ethnische Komponente masslos ueberschaetzt: http://www.guardian.co.uk/uk/2011/aug/10/uk-riots-racial-dimension

Anonym hat gesagt…

Tariq Janad, der Vater eines getöteten Jugendlichen hat mit den Worten ....

"I don’t blame the police, I don’t blame the government. I’m a Muslim: I believe in divine fate and destiny. It was his fate, his destiny, and now he’s gone"

... wohl schlimmeres verhütet und ein Abflauen der Unruhen bewirkt.

Warum können nicht alle Muslime so drauf sein ? Palästina - haben jetzt die Juden, muss Allah gewollt haben; Assad ? Ist gerade schlecht drauf, wenn er tötet, dann nur nach Allahs Willen; Hunger in Ostafrika ... nun ja...

Für den konservativen Telegraph ist Janad der Held (heißt ja auch Weltenstürmer) die Flachbildschirme bleiben in den Auslagen, und die Sikhs können ihre Schwerter wieder wegstecken.

Ich würde einem Trauernden, der zur Ruhe aufruft, nie widersprechen, aber die Frage muss erlaubt sein:

Wo kommen wir hin, wenn wir unseren Frieden nur finden zum Preis einer Schicksalsgläubigkeit, die jedem freiheitlichen Menschenbild und wissenschaftlichem Forschngsdrang Hohn spricht.

Wenn ALLE das glauben würden und sich tierisch zusammenreißen täten, vielleicht hätten wir dann tatsächlich Frieden; aber wir würden den erstbesten Seuchen zum Opfer fallen, weil doch: Wer glaubt, dass alles schon ausgemacht ist, der kämpft nicht nur nicht mehr, der forscht auch nicht mehr, der ändert nichts mehr, oder ?