Samstag, 6. August 2011
Deniz
- 6. Ramadan -
Oder: Wie aus einer anderen Zeit
Es war ein Nachmittag im Juli und das Lieschen und ich waren in der [Stadt in Deutschland]er Fussgaengerzone unterwegs. Schon von Weitem hoerten wir die Musik und in einer Einkaufspassage standen sie: ein Geiger, ein Tubist und drei Akkordeonspieler, eine Gruppe aus Russland, um die sich eine Gruppe von begeisterten Passanten sammelten. Klassische Musik, die mit einem Ausdruck und einer Staerke gespielt wurden, wie man es nicht oft zu hoeren bekommt. Unter den Zuschauern fiel er mir schon gleich zu Beginn auf: heller Strohhut auf grauem Haar, ein leichter beiger Mantel ueber dem dunkelblauen Dreiteiler, apart sah er aus, wie aus einer anderen Zeit.
"Efendim?"
Als ich ihn anspreche und frage, ob er wuesste, was die Gruppe spiele, versteht er mich nicht und nach dem zweiten Nachfragen meint er dann: "efendim?". "Na toll, der denkt, dass ich Tuerkin bin und mein Deutsch so miserabel ist, dass er seine Sprachkenntnisse aus dem letzten Tuerkeiurlaub herauskramen muss", denke ich mir, aber dann meint die Frau neben ihm, weisshaarig, dass das Verdi sein muesste - oder doch Mozart?
Deutschtuerkisch
Jetzt sieht er mich an und fragt mich, ob ich Deutsche sei. Ich bejahe und tue das, was ich immer mache, wenn mir jemand diese Frage nach meiner Herkunft stellt: Ich frage ihn, woher er kommt. Als er "ich bin Tuerke" anwortet, kann ich es erst gar nicht glauben. Er spricht perfektes Deutsch, drueckt sich so gewaehlt, so geschliffen aus, wie ich es von vielen Muttersprachlern nicht kenne und hat zwar einen ganz zarten Akzent - aber typisch Tuerkisch ist der nicht. Er habe in Aachen Maschinenbau studiert und dann jahrelang als Ingenieur gearbeitet.
Kinderfragen
Er nickt Richtung Lieschen und fragt, ob ich nur ein Kind habe. Ich sage das, was ich immer sage, wenn mir jemand diese Frage stellt: "Ja, und das reicht auch erst mal, eins ist wirklich mehr als genug zurzeit". Er widerspricht mir. Nein, er sei Einzelkind gewesen und sein Sohn auch, und er habe sich immer eine Schwester gewuenscht. Seinem Sohn haette es auch gut getan, noch jemanden zum Spielen zu haben. 30 sei sein Sohn in der Zwischenzeit, ein ganz toller Kerl. Einen 1,2er-Durchschnitt habe er im Abi gehabt, dann Informatik studiert, spiele Geige und Klavier und spreche fuenf Sprachen ("ausser Deutsch natuerlich"): Englisch, Franzoesisch, Spanisch, Latein ("Latein kann er auch sehr gut") und Tuerkisch. Ausserdem sei er Schachmeister.
Tuerkischer Vater, rechtsradikaler Stiefsohn
Er sei, erzaehlt der Mann, mit einer Deutschen verheiratet gewesen. Die Ehe sei jedoch vor einiger Zeit geschieden worden. Seine Frau habe einen Sohn mit in die Ehe gebracht, der dann "leider rechtsradikalen Tendenzen unterlegen ist. Das gab Reibungen in der Ehe und war mit einer der Hauptgruende fuer unsere Trennung." Er deutet an, dass es zu Handgreiflichkeiten kam und merkt an, dass sein Sohn und er bis heute an dieser Geschichte litten. Der Mann mit Strohhut und im blauen Anzug, der klassische Musik so gerne mochte, war also nicht nur Tuerke, sondern hatte zudem noch einen rechtsradikalen Stiefsohn? Ich konnte es nicht glauben und bemuehte mich, mein Staunen darueber, was fuer Geschichten das Leben schreibt, waehrend er weiter erzaehlte, zu verbergen.
"Mit engen Verbindungen zum letzten Sultan"
Schachmeister sei nicht nur sein Sohn sondern auch sein Vater gewesen, erzaehlt der Mann im blauen Anzug weiter. Medizin und Philosophie habe der studiert, damals in den 1920ern im Osmanischen Reich ("das Osmanische Reich, das kennen Sie doch?"), Geige und Klavier gespielt, komponiert, Gedichte geschrieben ("ueber 600") und acht Theaterstuecke verfasst ("vier davon aufgefuehrt"). Sechs Jahre sei er mit Agnieszka verlobt gewesen, die die Tochter aus einer Ehe zwischen einer polnischen Adeligen und dem Oberbefehlshaber der osmanischen Armee ("mit engen Beziehungen zum letzten Sultan und dem Koenigshaus") war.
Heirat mit einem polnischen Adeligen
Agnieszka hatte in Warschau und Budapest Klavier und Geige studiert. Die Verbindung zwischen ihr und dem Vater des Mannes im blauen Anzug musste geheim bleiben ("ihre Mutter ahnte vielleicht, was dort vor sich ging, aber offiziell war das nicht"), bis sie schliesslich nach sechs Jahren erklaerten, dass sie heiraten wollten. Drei Wochen vor der geplanten Hochzeit eroeffnete die Mutter ihrer Tochter dann, dass sie nach Warschau zu reisen habe. Auf ihre Nachfrage, erklaerte sie ihr, dass sie dort einen polnischen Adeligen heiraten werde. Agnieszka widersprach, erklaerte, dass sie sie ihren Verlobten heiraten wollte, verweigerte Essen und Trinken - aber nichts half, sie musste nach Warschau und wurde dort verheiratet.
Istanbul Love Story
Vier Wochen spaeter war sie wieder in Istanbul, weggelaufen von einem Mann, mit dem sie nicht leben wollte, zurueckgekommen zu dem Mann, mit dem sie ihr Leben teilen wollte. Die Mutter tobte, drohte ihr mit Enterbung und dem Entzug aller Titel - was Agnieszka nicht kuemmerte - letztendlich setzte die Mutter sich durch, sie schickte ihre Tochter zurueck nach Warschau. Dreieinhalb Monate spaeter war die junge Frau wieder in Istanbul. Dieses Mal liess die Mutter sie mit Gewalt zurueck zu ihrem Mann bringen ("von drei Maennern, die sie trugen"). Sein Vater, so erzaehlte der Mann im blauen Anzug, hat danach nie wieder etwas von Agnieszka gehoert.
Ein Kind
Er sei, so der Mann, danach in eine tiefe Depression gefallen. Zwei Jahre lang wollte sein Vater nichts und niemanden sehen, Hunderte von Gedichten und Musikstuecken habe er in der Zeit verfasst, immer mit der gleichen Widmung: Fuer Agnieszka. Eine befreundete Familie schlug seinen Eltern schliesslich vor, ihn mit ihrer Tochter zu verheiraten. Er lehnte ab, meinte, dass keine so schoen und gebildet wie Agnieszka sein wuerde. Die Hochzeit kam schliesslich doch zu stande, trotz der erheblichen Standesunterschiede, wie der Mann im blauen Anzug erklaerte, "die Frau hatte nur die Realschule abgeschlossen". Ein Kind ging aus der Ehe hervor, dass war er. Aber als er nur drei Monate alt war, wurde die Ehe geschieden, und er wuchs bei den Eltern seines Vaters auf.
Auf Wiedersehen
Ploetzlich stoppt die Musik, die vier russischen Musiker haben aufgehoert zu spielen. Die Frau, in deren Begleitung der Mann im blauen Anzug in die Passage gekommen war, kommt auf uns zu. Mit einem Laecheln streckt sie mir ihre Hand entgegen und stellt sich als Irena vor. Jetzt hoerte ich auch bei ihr einen ganz zarten Akzent heraus. Als ich ihr meinen Namen sage, moechte sie wissen, was er bedeutet. Ich erklaere es ihr, und dann entsteht eine kleine Pause. Ich sehe zu dem Mann im blauen Anzug und frage ihn, wie er heisst: Deniz. Ich laechele, er laechelt, und zum Abschied schuetteln wir uns die Hand. Sie wuenschen mir alles Gute, ich ihnen auch, dann drehen sie sich weg, sie hakt sich bei ihm ein und sie verschwinden in der Masse der Menschen, die an diesem Julinachmittag in der Einkaufsstrasse in [Stadt in Deutschland] unterwegs sind.
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3 Kommentare:
Ich bin beeindruckt.
War ich auch.
"Er deutet an, dass es zu Handgreiflichkeiten kam "
Wie einfühlsam formuliert, das ist wahrer Postfeminismus.
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