Freitag, 6. August 2010

Tube-Geschichten (02)

Am frühen Samstagabend irgendwo in den Tiefen des Londoner Tube-Systems. Lieselotte, das Lieschen und ein Haufen Londoner warten auf die nächste Bahn. Ein Mann kommt die Treppe herunter auf den Bahnsteig getorkelt. Da hätte ihn jemand ansprechen und ihn fragen können, ob alles in Ordnung sei. Er tastete sich an der Wand entlang, Da hätte jemand fragen können: "Entschuldigung, ist alles in Ordnung?", stieß gegen zwei andere Passagiere, "Wollen Sie sich vielleicht lieber setzen?", stolperte, "Brauchen Sie Hilfe", fing sich wieder, "Alles klar?", fiel über einen jungen Mann, der an der Wand lehnte, und ihn wegstieß anstatt zu fragen: "Was ist denn los?", und knallte mit dem Gesicht zuerst und dann der Länge nach auf den steinernen Fußboden.

Ich habe mich schnell weggedreht und als ich wiederhin sah, war der Bahnsteig vollgetropft mit dem Blut des Mannes und eine Gruppe von Leuten stand um ihn herum, half ihm hoch, setzte ihn auf die Bank, besorgte ein Taschentuch, benachrichtigte einen Fahrer.

Es war Gott sei Dank nichts Schlimmes passiert, aber wäre der Mann überhaupt gefallen, wenn mal jemand etwas früher seine Pendler-Gleichgültigkeit abgestreift hätte und sich um ihn gekümmert hätte?

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Du bist Zeuge eines sozialpsychologischen Phänomens geworden, liebe Lotte.

Es handelt sich um den sogenannten Bystander-Effekt.

Wenn mehrere Leute Zeuge einer Straftat oder einer anderen Situation, in welcher Hilfe nötig wäre, werden, kommt es z.B. zur Verantwortungsdiffusion - keiner fühlt sich in der Verantwortung, weil ja noch genügend andere da sind, die helfen könnten und weil keiner hilft, geht man evt. davon aus, dass es vielleicht ja auch gar nicht nötig sei zu helfen. Oder man hat Angst sich zu blamieren, wenn man als Einziger eingreift.

Lies dazu folgendes:
http://de.wikipedia.org/wiki/Zuschauereffekt

Was hilft?
Hingehen und direkt jemanden aus der Zuschauerrunde ansprechen, dass er bitte helfen soll: "Hey, Sie da! Ja, sie in der gelben Jacke! Bitte helfen Sie! Rufen Sie bitte mit ihrem Handy den Krankenwagen/helfen Sie dem Mann auf die Beine/Packen Sie mal mit an!", oder so ähnlich. Das bricht jedenfalls die Anonymität und es wird selten passieren, dass sich der Angesprochene dann drückt oder gar weiter gafft.

Lieselotte hat gesagt…

Ja, den Spruch mit der gelben Jacke kenne ich auch. Das wäre einen Versuch wert gewesen. In Deutschland hätte ich bestimmt auch was gesagt, aber hier kommt einem dann halt manchmal doch noch die Fremdsprache in die Quere ... ich glaube, daran lag's bei mir. Und dass ich das Lieschen auf dem Arm und den Buggy vor mir hatte. - Aber was war mit den anderen?

Anonym hat gesagt…

Na ja, Du kannst gut genug Englisch um in einer solchen Situationen zu reagieren. Und dass Du ein Kleinkind auf dem Arm hattest rechtfertigt natürlich, dass Du nicht hingehst und den Mann auffängst. Aber dass Du nicht den Mann neben Dir bittest einzugreifen, rechtfertigt es nicht. Du warst wahrscheinlich genauso perplex wie die anderen Umstehenden und hattest das Gefühl, dass jemand anderes besser in der Lage wäre etwas zu machen. Aber so ging es wahrscheinlich vielen anderen auch. Man denkt immer, dass jemand anderes besser geeignet wäre einzugreifen. Genau solche Rechfertigungen hört man ja gerade von den Leuten, die dem Bystander-Effekt unterliegen ;-)

Lieselotte hat gesagt…

Natürlich spreche ich gut Englisch, das ist nicht die Frage. Aber gerade in solchen Situationen, in denen es darum geht, dass du schnell und spontan reagierst, merke ich halt doch immer wieder, dass es eine Fremdsprache ist.

In Deutschland würde ich in einer ähnlichen Situation schneller reagieren, hab ich oft genug gemacht.

Aber wer weiß, vielleicht war die Hälfte der Leute da ja auch Touristen, Migranten und noch mehr so'n Gesocks... ;)