Oder: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen
Mittwochabend, das Lieschen und ich sind auf dem Weg nach Hause. Ich war den ganzen Tag auf der Arbeit und bin müde, froh, dass endllich die U-Bahn kommt und ein Sitzplatz in Sichtweite ist. Im Eingangsbereich neben den Türen des U-Bahn-Waggons hockt einer, mit dem Rücken an die Trennwand gelehnt, aber irgendwie komme ich mit Lieschen, Kinderwagen und Taschen vorbei. Sitzen, endlich. Ich unterhalte mich mit dem Lieschen, nach Bah bah black sheep und One, two, three, four, five will sie Five little Monkeys singen, da bekomme ich aus den Augenwinkeln mit, dass der Mann, der da noch vorher an die Wand gelehnt saß, auf dem Boden liegt. Ich registriere es erst gar nicht richtig, schaue wieder weg, bis mir bewusst wird, dass da jemand auf dem Boden liegt. Mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden.
Ich schaue mich um. Das Abteil ist voll. Keiner scheint den Mann am Boden zu bemerken, aber es kann nicht sein, dass sie ihn nicht sehen. Der liegt da doch. Es dauert wieder eine Sekunde, bis ich weiß, was zu tun wäre. Ich schaue zu den beiden Männern, die genau zwischen mir und dem Mann am Boden stehen und frage, ob sie mal hingehen könnten und schauen, ob alles in Ordnung ist. Die beiden schauen mich an, als spräche ich Chinesisch. Der Ältere sagt nichts, reagiert nicht. Der Jüngere schüttelt, als ich meine Frage wiederhole, verneinend den Kopf. Ich schaue mich um. Keiner guckt. Sehen die nicht? Hören die nichts?
Ich sehe mich um, in die andere Richtung. Da stehen drei Jungs, vielleicht 16 oder 17, kleine Türken sind das oder Jugos vielleicht. Ich frage sie, ob sie mal nach dem Mann gucken wollen und plötzlich holt einer der drei sein Handy raus und sie überlegen noch, ob sie hier überhaupt eine Verbindung kriegen, da ist die Notrufnummer schon gewählt. Als ich höre, wie einer seinen Freund fragt: "Was soll ich denn da jetzt sagen? Mach du!", übernehme ich das Telefon und ziehe die Notbremse. Während ich am Telefon die Situation erkläre, erklärt der kleine Türke dem Fahrer über die Sprechanlage, was passiert.
Während wir - der Zug steht in der Station - auf den Fahrer warten, kommen mehr und mehr Fahrgäste in den Wagen. Die Erleichterung, die Bahn doch noch erwischt zu haben, die kennt man - aber für einen Platz im Waggon über einen, der da am Boden liegt, steigen? Kein "Oh, was ist denn hier los? Ist alles in Ordnung? Kann ich helfen?" Der Junge, der vorhin auf meine Frage hin nur den Kopf geschüttelt hat, schaut immer noch genauso wie vorher auf die Wand gegenüber von ihm. Keiner sagt was. Der Fahrer kommt, spricht den Mann an, hilft ihm, sich aufzusetzen. Es scheint alles mehr oder weniger in Ordnung zu sein, die Fahrt geht weiter. Ich erkläre den drei Jungs noch, dass sie, wenn immer sie in einer solchen Situation sind, selbst was machen oder zumindest Hilfe holen sollen, auch wenn sie der Rest der Leute deshalb für deppert hält. Wenn der komisch liegt, vielleicht besoffen ist und sich erbricht, kann er ersticken. Dann wollt ihr nicht der gewesen sein, der auf die Frage nach Hilfe den Kopf geschüttelt hat. Die Jungs nicken, und das Lieschen und ich steigen aus.
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3 Kommentare:
Innerlich haben die meisten Menschen auf total egoistisch und asozial geschaltet. Beispiel: Auch für 'ne Bahn, die im Fünfminutentakt fährt hält man minutenlang für nen Kumpel die Tür auf, damit er angespurtet kommt. Total asozial, sowas gilt aber 'hat ein Herz', wenn er den ganzen TAkt durcheinander bringt.
Zoff, jemand verletzt, bloss nichts sehen, könntest ja selbst stress kriegen. Das soziale müßte man komplett neu gründen, so wie es ist, glaubt keiner mehr dran.
So ähnlich habe ich das auch schon erlebt.
Da fehlt es an Zivilcourage - ein ganz altmodischer Begriff
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