Oder: Was jetzt, Frau Schwarzer?
Madeeha ist Mitte 20. Sie kommt aus einer muslimischen Familie in [Land in Südasien]. Ihre Eltern müssen eine ganze Menge Geld aufgebracht haben, um sie zum Studium nach England zu schicken - eine große Investition für eine südasiatische Mittelklassefamilie. Lange studiert hat sie nicht, sie hat nämlich Hassan kennen gelernt, der aus dem gleichen Land stammt und hier seinen Master macht. Sie haben ziemlich schnell festgestellt, dass sie "ohne einander nicht leben können" - und geheiratet. Religiös, weil das schnell und unkompliziert geht. Love marriages sind in [dem Land, aus dem sie stammt] selbst in der augenscheinlich verwestlichten Oberschicht extrem selten. Genauso ungewöhnlich sind Heiraten über die Grenzen der eigenen ethnischen Gruppe hinweg. So kommt es, dass Madeeha und Hassan seit einem Jahr als Ehepaar zusammen leben, ohne dass ihre Familien von der Heirat wissen. Die denken weiter, dass ihr Sohn und ihre Tochter alleine in England leben und studieren.
"Irgendwann nächstes Jahr", wenn Hassan sein Studium beendet hat, wollen sie den Familien in [Land in Südasien] beichten, dass es da jemanden gibt - und die Eltern davon überzeugen, dass eine Heirat in die Wege geleitet werden soll. Das wird voraussichtlich schwierig werden - aber, so Madeeha, "sie müssen zustimmen". Vorher ansprechen will sie das Thema nicht. "Am Telefon kann ich ihnen nicht sagen, wie ich wirklich fühle. Außerdem sind sie schon alt, was mache ich, wenn sie sich so aufregen, dass sie - was weiß ich - einen Herzinfarkt bekommen und daran sterben?" Also wartet sie bis "irgendwann nächstes Jahr" und erzählt bis dahin Freunden und Familien, der junge Mann, der so außergewöhnlich oft auf ihren Facebook-Bildern auftaucht, sei "ein Freund".
Nach der Heirat hat Madeeha ihr Studium aufgegeben. Auf die Frage, was sie studiert habe, lacht sie und meint: "nichts". Jetzt schmeißt sie zu Hause den Haushalt, arbeitet zwei bis drei Stunden pro Woche als Babysitterin, guckt viel Fernsehen oder geht mit einer ihrer Freundinnen einkaufen. Ihr Englisch ist schlechter als man es nach zwei Jahren in England erwarten könnte, aber sie arbeitet und studiert ja nicht. Zu Hause in [Land in Südasien] hat sie außer dem Kopftuch und einem langen Gewand einen Gesichtsschleier getragen. Weil sie von den Männern und ihren Blicken angeekelt war, wie sie meinte. In England angekommen, trug sie dann nur noch Hijab - das erklärte sie dann auch dem Alimustafa: "Ach, ich trage ja auch Hijab". Dass sie dabei mit offenen Haaren vor ihm saß, irritierte ihn nur ein bisschen. Als sie uns abends zum Bus brachte und wieder kein Kopftuch zu sehen war, beschlossen wir, dass er sie falsch verstanden haben musste. Wahrscheinlich meinte sie, dass sie früher auch Hijab getragen hatte. Drei Tage später verlässt sie mit uns das Haus: in engen Jeans und einem Kopftuch. "Ich trage es nur manchmal", erklärt sie, "ich bewundere es, wenn jemand es immer trägt".
So. Das ist Madeeha. Und was jetzt, Necla Kelek und Alice Schwarzer? In welche Schublade stecken wir sie? Selbstbewusste, emanzipierte Frau oder unterdrücktes Muslimchen? Oder ist die Realität doch ein bisschen komplexer als Sie es uns so oft weis machen wollen?
Mittwoch, 10. November 2010
Madeeha
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3 Kommentare:
Bei diesem Bericht frage ich mich als Erstes: Wieso trug sie "zu Hause" Hijab und Niqab (oder was auch immer)? Aber in England nicht? Hat es vielleicht was mit der Gesellschaft in ihrem Heimatlandland zu tun? Sind die Männer da obszöner? Irgendwie ist es ja schön, dass sie sich in England frei fühlt, aber so richtig verstehen tu ich das nicht. Und was Alice Schwarzer dazu wohl sagen würde? Na ja, dass die Frau sich manchmal so, manchmal so verhält spricht bestimmt auch in Schwarzers Augen eher für eine gewisse Selbstbestimmtheit der jungen Dame. Aber eben nur für einen gewissen Grad an Selbstbestimmtheit. Denn scheinbar fühlt sie sich doch manchmal dazu verpflichtet sich zu bedecken - wenn auch nicht so, wie andere Musliminen es verstehen (weite Kleidung, etc.). Dieses vermeintliche schlechte Gewissen, was die junge Dame ab und an verspürten mag, bringt sie dazu, dann doch mal ein Kopftuch anzulegen. So kommt es du diesem paradoxen Verhalten.
Ach ja, und Alice Schwarzer würde das bestimmt trotzdem so sehen, dass die jugen Frau irgendwelchen Zwängen unterliegt. Man erwartet vielleicht, dass sie sich bedeckt. Dem kommt sie zwar nicht immer nach, aber doch hin und wieder.
Abgesehen davon:
Wenn das Tuch "nur" symbolisch getragen wird, wie in den süd-asiatischen Ländern zu beobachten, also nicht die hermetische Abriegelung der Haare bewirkt, sondern ein Lockeres Drüberwerfen eines bunten, schmucken Kleidungsstückes darstellt, dass eher wie bei einer Prinzessin aus 1000 und 1 Nacht aussieht, dann ist das auch was ganz anderes. Jedenfalls empfinde ich persönlich einen großen Unterschied zwischen diesen Arten sich zu bedecken: Locker und mit sichtbarem Haaransatz oder ähnliches und im Gegensatz dazu das ganz eng anliegende, tief ins Gesicht gezogene und mit Nadeln festgesteckte Kopftuch.
"Und was jetzt, Necla Kelek und Alice Schwarzer? In welche Schublade stecken wir sie?"
Für ihre Situation ist maßgeblich:
"als Ehepaar zusammen leben, ohne dass ihre Familien von der Heirat wissen"
Wenn ihre Eltern davon erfahren, dann könnte sie einen Sarg als Schublade benötigen.
Sie wirft sich vielleicht gelegentlich ein Kopftuch über, wenn sie Leute aus der Gegend ihrer Familie (Sprache, Akzent) um sich wähnt, in GB.
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