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Oder: Der Zwischenfall
Es ist ein warmer Sommerabend, die Hitze, die uns den ganzen Tag geplagt hat, ist immer noch nicht ganz verschwunden. Bald wird die Sonne untergehen und wir hoffen, dass die Temperaturen wenigstens dann etwas erträglicher werden. Ich hoffe das, weil mir trotz Leinen- und Baumwollkleidern (in den ungefähr 10 Jahren, die schon Hijab trage, habe ich gelernt, Hitzefreundlichkeit und Hijabtauglichkeit mehr oder weniger unter einen Hut zu bekommen) bestimmt zwei, drei Grad heißer ist als den meisten anderen hier.
Jung, schlau, was gesehen von der Welt
Ein warmer Sommerabend, wir drängen uns auf der Dachterrasse des Büros der Organisation, die uns heute Abend zum Empfang eingeladen hat. Wir, das ist eine Gruppe von Dutzenden Stipendiaten, die ein Förderprogramm durchlaufen haben. Man ist jung, schlau und hat was gesehen von der Welt. Heute Abend gibt es Sekt und Saft, Fingerhäppchen, nette Gespräche, Wiedersehensfreude. Dann werden wir zusammengerufen. Der Leiter der Organisation möchte eine Rede halten.
Im weißen Hemd, ein Glas Sekt in der Hand
Er erzählt von den Anfängen des Programms, der Namensgebung, den Zielen und Ergebnissen. Es ist immer noch verdammt heiß, auch ihm, wie er da steht in seinem inzwischen doch ziemlich zerknitterten Hemd - wenigstens trägt er kein Sakko - bei der Hitze! Er ist eloquent und weiß sich auszudrücken, ist voll bei der Sache, vielleicht hat er auch schon ein Glas Sekt intus, ich stehe nicht weit von ihm zwischen den anderen Stipendiaten.
Immer mehr Leute mit Migrationshintergrund
Er spricht davon, wie sich die Reichweite des Programms erweitert hat, er begrüße das sehr, so hätten in den letzten Jahren doch zum Beispiel auch immer mehr Leute mit Migrationshintergrund teilgenommen. Er schaut mich an. Ich denke: "Nein!". Er öffnet den Mund. Ich bete, dass er es nicht tut. Aber natürlich kommt als nächstes: "Wie Sie zum Beispiel. Sie haben doch auch einen Migrationshintergrund?" Nein. Perplex bin ich, so baff, dass er das tatsächlich gesagt hat, dass ich nur vehement den Kopf schütteln kann. Nein. Ich habe keinen Migrationshintergrund.
Gut verkleidet
Er schaut irritiert, ein kurzes Lachen: "Na, da haben Sie sich aber gut verkleidet!"
"Oh scheiße. Oh scheiße!"
Mir fallen fast die Augen aus dem Kopf. Was hat er gerade gesagt? Zum Glück ist da Firas, der tatsächlich einen Migrationshintergrund hat, vier oder fünf Leute weiter steht, solche Sprüche auch schon kennt, und - laut loslacht. Firas` schallendes Gelächter war genau, was ich brauchte in dem Moment. Ich konnte immer noch nichts sagen. Wie eine weitere leitende Mitarbeiterin der Organisation, die neben dem Leiter stand, halblaut "Oh scheiße. Oh scheiße!" murmelte, bekam ich nicht mit. Irgendwie ging es weiter, die Rede zu Ende und der Halbkreis um den Sprechenden löste sich auf. Ich war immer noch vollkommen perplex.
Hat er das wirklich gerade so gesagt?!
Der Abend ging noch weiter, es kühlte ab, und wir hatten, der Moment, in dem sich keiner so richtig sicher war, ob der das eben gerade tatsächlich so gesagt hatte, war vorbei - und wurde abgelöst - von Gelächter.
Vollkommen daneben
Aber wie vollkommen daneben ein solcher Kommentar von einem leitenden Vertreter einer führenden Organisation in Deutschland auf einer offiziellen Veranstaltung war, wurde mir erst später bewusst, als ich mir vorstellte, das Gespräch wäre so verlaufen:
Leiter freut sich, dass in der Zwischenzeit so viele unterschiedliche Leute von der Organisation erreicht werden und am Programm teilnehmen --- ganz toll --- in der Zwischenzeit ja sogar auch Homosexuelle! --- wie Sie, zum Beispiel, Sie sind doch homoxuell, oder? --- nein? Da haben Sie sich aber gut verkleidet! Ha ha ha...
Oder:
Leiter begrüßt die wachsende Diversität der Gruppe der Stipendiaten --- mittlerweise ja junge Leute aller möglichen unterschiedlichen religiösen Gruppen --- sehr erfreut darüber, dass dieses Jahr auch besonders viele jüdische Stipendiaten mit dabei --- wie Sie, zum Beispiel, Sie sind doch auch jüdisch, oder? --- nein? Da haben Sie sich aber gut verkleidet, Mensch! Aber die Hakennase, die ist doch echt...?!
Deutschland, Mitte 2000er, we still have a long way to go...
5 Kommentare:
Da fehlen mir glatt die Worte.
Gruß
Michaela
Mist. Nicht zu fassen. Kopf hoch, bitte. Weitermachen, bitte. Liebe Grüße aus Neukölln http://youtu.be/6Z66wVo7uNw
Danke, Leute!
Haha ... Fremdschämen deluxe :-D Unfassbar, was für dumme Kommentare/Bemerkungen/Fragen manche Menschen raushauen ... aber das zeigt uns mal wieder, dass auf allen Ebenen der Hierarchie auch nur mit Wasser gekocht wird.
Aber: Wieso bist Du am Ende der Veranstaltung nicht zu ihm gegangen und hast ihn noch mal mit seiner Peinlichkeit konfrontiert ... äh ... ich meine natürlich ... aufgeklärt. Ist es nicht auch eines deiner Prinzipien für Aufklärung zu sorgen? Den Menschen die Augen zu öffnen, was ihre Irrtümer betrifft? Zum Beispiel, dass nicht alle "Kanacken" sind, die irgendwie komisch auf einen wirken? Muahahaha .... :-D
Ich visualisiere es gerade sehr deutlich vor meinem inneren Auge, wie das Szenario alternativ hätte ablaufen können: und Du schreist auf seine Unterstellung: "Nee, guck mal da rüber! Da steht doch der Quoten-Migrant! Ich bin nur n bissi crazy unterwegs, verkleide mich ganz gerne mal. Morgen komme ich als Geisha und übermorgen als Nigger-Braut bzw. Ghetto-Bitch!" :-D
Oh, es gab noch einen zweiten Teil. Er kam tatsächlich im Laufe des Abends noch einmal auf mich zu (keine Ahnung, ob aus eigenem Antrieb oder weil seine Kollegen ihm dringend dazu geraten hatten) - und meinte, es wäre ja nicht böse gemeint gewesen. Außerdem hätten seine Kinder auch Migrationshintergrund. Und er fände das ja immer toll und so interessant, wen jemand noch von woanders käme. Wirklich verstanden, warum sein Kommentar so daneben war, hat er glaube ich gar nicht. :)
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