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Oder: Der erste Tag des Junis
Tag am See...
Wenn deine Freundin oder dein Vater oder deine Nachbarin oder deine Schwester um elf Uhr nachmittags am ersten Tag des Junis das Haus verlässt und erst um Mitternacht nach Hause kommt ... dann kann es sein, dass sie sich einen tollen Tag in der Stadt, im Park oder am See gemacht hat - oder als friedliche Demonstrantin stundenlang von der Polizei eingekesselt, immer mal wieder mit Pfefferspray besprüht worden und schließlich über den Asphalt Richtung Polizeiwagen gezerrt worden ist.
...oder ne Ladung Pfefferspray ins Gesicht?
Wenn deine Mutter oder deine Bekannte um elf Uhr nachmittags am ersten Tag des Junis das Haus verlässt, um an einer friedlichen, angemeldeten, genehmigten Demonstration teilzunehmen ... dann kann es sein, dass sie irgendwann am frühen Nachmittag oder Abend wieder zu Hause ist - oder du bis Mitternacht auf sie wartest und hoffst, dass sie weder eine Ladung Pfefferspray ins Gesicht abbekommen hat noch einem Polizeiknüppel in die Quere gekommen oder in der von der Polizei bedrängten Menge kollabiert ist.
Frankfurt / Main, Blockupy 2013
Frankfurt / Main,
Blockupy-Aktionstage 2013. Tausende Demonstranten treffen sich in der Nähe des Hauptbahnhofs um gegen die europäische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu demonstrieren. Mit dabei sind Vertreter der Partei Die Linke, der Gewerkschaft ver.di, kleinere antikapitalistische, kommunistische und antifaschistische Gruppierungen - und jede Menge Normalos, die ein Zeichen setzen wollen, gegen eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die sie als ungerecht empfinden. Um viertel nach zwölf setzt sich der Demonstrationszug in Bewegung, und gerade mal eine gute halbe Stunde später geht schon gar nichts mehr.
Eingekesselt
An einem strategisch günstigem Ort kurz vor dem Platz, an dem die Europäische Zentralbank liegt, kesselt die Polizei den vorderen Teil des Demonstrationszugs ein. "Kesselt ein" - das heißt, eine Reihe martialistisch gekleideter, bis auf die Augen vermummter Polizisten stellt sich den Demonstrierenden in den Weg. Nach vorne geht es nicht mehr, nach hinten auch nicht, die Seiten sind zu - Hunderte Menschen stecken fest. Männer, Frauen, kleine Kinder.
"Mit Sonnenbrillen vermummt"
Warum? Es sei gegen Auflagen der Demonstration verstoßen worden - so zum Beispiel das Vermummungsgebot. Demonstrierende hätten sich
"mit Regenschirmen und Sonnenbrillen" vermummt - bitte wie?! "Es soll sich um
200 bis 400 Vermummte handeln" - Bilder, Videos und Augenzeugenberichte vom Demonstrationsort strafen diese Aussage der Polizei Lügen. Ob Feuerwehrskörper und Farbbeutel auf Polizisten geworfen worden sind, ist
umstritten.
Pfefferspray gegen friedliche Demonstranten
Das Vorgehen der Polizei gegenüber den Demonstranten im und um den Kessel ist schockierend. Die Stimmung ist aufgeheizt, es kommt zu Szenen, zu Reaktionen der Polizei, die man vielleicht in
Istanbul erwartet - aber doch nicht mitten in Deutschland. Videoaufnahmen zeigen, wie immer wieder eingekesselte, friedliche Demonstranten mit Pfefferspray attackiert werden. Warum? Dass es mein verdammtes Recht ist, an einer angemeldeten, genehmigten, friedlichen Demonstration teilzunehmen - interessiert das hier irgend jemanden? Versammlungsrecht, Recht auf freie Meinungsäußerung - hallo, schon mal gehört? Ist da jemand?
"Der tut doch nur so!"
Stattdessen behauptet "ein älterer Polizist an der Untermainbrücke (...) es sei
'Kulanz', dass er den Berichterstatter der FR passieren lasse". - Ein anderer Journalist "beschwert sich, weil die Polizei ihn zur Seite drängt.
Eine Polizistin herrscht ihn an.
'Einfach mal die Klappe halten!'". -
Ein weiterer Augenzeuge berichtet: "Ein
Demonstrant lag regungslos am Boden, zwei Polizisten schleiften ihn
mehrere Meter hinter sich her, bis Pressevertreter Sanitäter riefen. Der
Kommentar eines Polizisten: 'Der tut doch nur so.'"
"Es gibt keinen Kessel"
Als der Kessel geschlossen ist, wenden sich die Veranstalter mit einem Eilantrag zur sofortigen Stoppung der Einkesselung an das lokale Verwaltungsgericht. Vielleicht hätten sie Erfolg haben können mit ihrer Initiative, wäre da nicht der Polizist gewesen, der dem Richter gegenüber versicherte, es gebe keinen Kessel. Kein Kessel, Ablehnung des Eilantrags, so war die Sache mit dem Gericht erledigt.
"Keine Samthandschuhe"
Um fünf beginnt die Polizei, den Kessel aufzulösen - da stand man dort schon seit vier Stunden. "Den Kessel auflösen" heißt einzelne Demonstranten werden aus dem Kessel abgeführt, gewaltsam herausgeschleift, bekommen ein Platz- oder sogar Stadtverbot erteilt, werden erkennungsdienstlich behandelt und / oder verhaftet. "Polizisten ziehen einen Demonstranten aus dem Kessel. Sie haben dabei keine Samthandschuhe an.", scheibt die
Frankfurter Rundschau. Man könnte auch sagen: "Die Polizeibeamten gingen gewaltsam vor." Um halb elf Uhr abends, nach neuneinhalb Stunden, die die Letzten hier von Polizei eingeschlossen auf der Straße verbrachten, ist der Kessel endlich
komplett aufgelöst.
Ein Vorgehen, eines Rechtsstaats unwürdig
Dass auch hinter einer Polizeiuniform ein Mensch steckt, ist keine Frage. Und dass man Angst hat, wenn man in so einer Situation steckt - sich einer Masse an Demonstrierenden gegenüber sieht - klar. Aber genauso wenig steht zur Debatte, dass die Polizei in Frankfurt an diesem Samstag Haltungen und ein Vorgehen gezeigt hat, das in einem demokratischen Rechtsstaat nichts zu suchen hat. Wir sind hier in Deutschland, Leute - und Grundrechte, die gelten auch für Antikapitalisten. Selbst, wenn sie an akuter Realitätsflucht leiden und unter chronischer Verschwörungtheoritis leiden. Schlagstöcke, Pfefferspray und willkürliche Gewalt gegen friedliche Demonstranten? Sorry, geht gar nicht. "Kulanz", "einfach mal die Klappe halten!", "der tut nur so!"? Schon mal was vom Grundgesetz gehört? Ich schick euch gerne eine Kopie vorbei. Und so wie's aussieht sollte ich woll auch einen Ratgeber zu Strategien des deeskalierenden Handelns beilegen - sagt mal, werdet ihr auf dem Gebiet nicht ausgebildet? Falls nein: setzen, Sechs - da fehlt was ganz Wesentliches. Falls ja: Schulverweis - wie konntet ihr?
Bilanz des Tages
Bilanz des Tages: Hunderte wegen Pfeffersprayattacken behandelte Demonstranten, etliche im Kessel Kollabierte, mehrere Schwerverletzte, darunter mindestens ein Journalist. Ein deutsch-iranischer Kommunist, der im Demonstrationszug, der nicht mehr zog, sondern stand, erklärte, er habe den Glauben an diesen Staat verloren und eine Mutter, die nach Mitternacht am Küchentisch sitzt und schimpft, dass es doch ein Unding sei, Polizisten, die sie mit ihren Steuerngeldern dafür bezahle, sie zu beschützen, griffen friedliche, unbewaffnete Demonstrierende mit Tränengas an. Ein Witzbold, der eine Städtepartnerschaft zwischen Frankfurt und Istanbul vorschlägt. Und die Frage: verdammt, was war das?!