Freitag, 31. Mai 2013

Zu Besuch bei Freunden


Geschichten von Heimat und neuer Welt, 
vom Anderssein und Ankommen

Lange nicht gesehen
 
Am Sonntag bin ich bei Hüma eingeladen. Wir haben zusammen Abitur gemacht, Hüma war damals nach der zehnten von der Realschule zu uns aufs Gymnasium gekommen. Es war nicht immer leicht für sie, aber sie war zielstrebig und hat sich durchgeboxt. Nach der Schule bin ich weg und sie hat in [unserer Stadt] Mathe und Sport auf Lehramt studiert, eine Zusatzausbildung in Reformpädagogik absolviert, Yasin kennen gelernt, sich verliebt, verlobt, verheiratet. Dann ist sie zu ihm nach [andere Stadt in Deutschland] gezogen, hat dort ihr Referendariat absolviert und begonnen, als Lehrerin zu arbeiten. Ich war nicht mehr in Deutschland, sie nicht mehr in [der Stadt, aus der wir kommen], wir haben uns nicht oft gesehen in den letzten Jahren.

Weißer Käse, Rührei, Mangosaft, Nutella

Als wir jetzt beide zur gleichen Zeit in [unserer Stadt] waren, war klar, wir müssen uns sehen. Bis wir uns erreicht haben, war es später Samstagabend, zwölf Stunden später standen das Lieschen und ich bei ihrer Familie auf der Matte. Ihre Mutter, ganz jung und sehr hübsch, öffnet uns die Tür, es werden alle begrüßt, das Lieschen bestaunt und Hümas Tochter, die erst einige Monate alt ist, bewundert. Es gibt kaum etwas besseres als ein türkisches Frühstück, und da sitzen wir dann zusammen im Esszimmer, Hümas Vater, ihre Mutter, Yasin, sie, das Lieschen, ich - das Baby wird rumgereicht. Weißer Käse, gelber Käse, Rohkost, Rühreier, Kartoffelsalat mit Sucuk, Tomaten-Mozzarella-Salat, Nutella für das Lieschen, in Scheiben geschnittene Orange und gestückelte Ananas für alle anderen, dazu Mangosaft und schwarzen Tee. So richtig Türkisch ist das zwar nicht, aber Hauptsache lecker.

Alte und neue Geschichten

Wir essen, lachen und erzählen von früher. Ich kenne quasi Hümas ganze Großfamilie, weil ich in einem Sommer vor vielen Jahren, als wir beide noch an der Uni waren, mal mit ihnen in den Urlaub in die Türkei mitgefahren sind. Und ein paar Jahre später, als ich in Frankreich studierte, und Yasin zufälligerweise auch gerade ein Auslandssemester in der gleichen französischen Stadt einlegte, kamen Hüma und ihre Mutter zu Besuch. Es gibt viele alte Geschichten, die wir uns wieder erzählen können. Und neue auch. Da ist das Lieschen, die kleine Tochter Hümas, mein Leben in London, und Hümas und Yasins bevorstehender Umzug.

Türkei - Deutschland - Harvard

Yasin hat eine Projektstelle in Harvard angeboten bekommen, im September geht er nach Boston, Hüma und die Kleine sollen bald nachkommen. Für ein Jahr, vielleicht auch zwei. Von seinen Eltern hat keiner studiert, auch Hüma ist die erste (und bis jetzt einzige) in ihrer Familie, die einen Uniabschluss gemacht hat. Ihr Vater hätte vielleicht auch gerne studiert, er musste aber damals in den Achtzigern die Türkei verlassen und kam zu seinem Vater, der schon in Deutschland arbeitete. Hümas Vater brachte seine Frau mit. Sie war sechzehn als Hümas Bruder Erol geboren wurde, ein Jahr später kam Hüma auf die Welt. Wie es für sie damals gewesen sein muss, alleine mit ihrem Mann und seinem Vater in dem fremden Land, schwanger, und dann mit zwei kleinen Kindern?

Sie haben sich durchgekämpft

Sie hat sich durchgekämpft, das haben sie beide gemacht. Deutsch gelernt, sie hat den Realschulabschluss nachgeholt, einen Job in einer Bank bekommen, sich hochgearbeitet. Früher hat sie Kopftuch getragen, das hat sie irgendwann abgelegt, aber religiös ist sie noch immer. Hümas Großvater ist irgendwann wieder in die Türkei zurückgegangen. Mit Deutschland ist er nie warm geworden, er kam nie wieder zu Besuch. Ich habe ihn kennen gelernt, bei Hümas und meiner Reise in die Türkei, er wohnte in einem kleinen Haus am Rand einer riesen Plantage, die er bewirtschaftete. Von Kopftuch und Co. hielt er nicht viel, aber wir haben uns verstanden. Auf der Plantage, wo er sich wohler fühlte als zu Hause, da ist er auch gestorben, vor einigen Jahren.

Kind in der einen Hand, Ipad in der anderen


Nach dem Frühstück sitzen wir zusammen im Wohnzimmer, Hümas Kleine wird rumgereicht, das Lieschen von Hümas Vater gekitztelt, bis es schreit; es werden Geschenke ausgetauscht; Yasin steht in einer Ecke des Wohnzimmers, seine Tochter auf dem einen Arm, den Ipad im anderen. Etwas später kommen auch Hümas Bruder Erol, seine Frau Nur, ihr Sohn und Nurs Mutter vorbei. Erols Sohn ist blond und als ich ihn sehe, zum ersten Mal, kann ich mir nicht verkneifen, zu sagen, dass sie es da mit der Integration aber genau genommen hätten, ein blondes Kind, ein kleiner blonder Türke, schwarz wäre doch auch ok gewesen, Erol! Dabei ist Nur blond, und ihre Mutter auch.

Irokesenschnitt, Gesichtsschleier, Zweitfrau, Homoehe

Erol kenne ich auch schon seit über zehn Jahren, vor zwei oder drei Jahren hat er geheiratet. Jetzt ist der Kleine fast ein Jahr und nach fast zwölf Monaten Elternzeit ist Erol kurz davor, wieder in den Beruf einzusteigen. Irgendwas mit Autos arbeitet er, Automechaniker oder Pkw-Händler. Als wir zusammen auf dem schicken schwarzen Sofa sitzen (Hümas Mutter hatte schon immer einen exquisiten Geschmack, sie ist weiter nicht aufgefallen, damals in Paris!), stellt Hümas Vater mir die unvermeintliche Frage, wo es mir denn besser gefalle, in London oder [hier in unserer Stadt in Deutschland]. Ich beginne zu erzählen, und eines der Argumente, das in meinen Augen für London spricht, ist die Toleranz: Egal, wie du aussieht und was du machst, London kann deine Stadt werden, es gibt da einen Platz für dich und du kannst dir sicher sein, nicht weiter aufzufallen. Rosa Irokesenschnitt, schwarzer Gesichtsschleier, Zweitfrau, Homoehe - gibt's alles schon, mindestens einmal, wahrscheinlich noch öfter.

Lieber kein Piercing am Arbeitsplatz

Hümas Vater nickt zustimmend und meint, dass das etwas sei, was ihm hier auch immer wieder auffalle und ihn störe. Die Intoleranz. Die Weigerung, das Andere als gleichwertig oder zumindest gleichberechtigt anzusehen. Er erzählt von einer Begebenheit auf seiner Arbeit, wo eine neue Kollegin, die mehrere Ohrringe getragen habe, das ganze Ohr hoch, angefangen habe. Der Chef, der zufällig hereingekommen sei, habe sie groß angesehen, sei aber ohne ein Wort zu verlieren, wieder gegangen - und etwas später hätte die Frau des Chefs ihn angerufen. Ob die neue Mitarbeiterin Piercings trage? Er bestätigte und fragte sich, was der Aufruhr solle. Am nächsten Tag war die neue Kollegin weg. Und das obwohl sie die Ohrringe auch während des vor Arbeitsbeginn abgehaltenen Vorstellungsgesprächs getragen hatte.

Ein bisschen mehr Gelassenheit

"Ja, haben die das beim ersten Mal nicht gesehen? Dachten die, sie zieht sie für die Arbeit aus? Das hab ich nicht verstanden", meint Hümas Vater. Ich erzähle ihm von dem Mann mit gefärbten Irokesenschnitt, den ich in Transport-for-London-Uniform in England in der tube arbeiten gesehen habe. Wen hat's gestört? Wir schütteln beide den Kopf. Von so einer Art Toleranz, Gelassenheit, Souveränität könnte auch Deutschland etwas vertragen, da sind wir uns einig. Dann würde ich hier auch lieber leben als in London.

Ob ihr Englisch reichen wird?

Als Hüma, Yasin und das Baby sich schließlich mehrmals von allen verabschiedet haben, wir ihnen zu siebt gewinkt haben, bietet Erol an, das Lieschen und mich nach Hause zu fahren. Ich lehne zwar ab, aber er besteht darauf und fährt uns. Auf der Fahrt unterhalten wir uns, über London, hier, Amerika. Hüma war noch nie in den Staaten und ein bisschen mulmig ist ihr schon. Ob ihr Englisch reichen wird? Sie hat mal zwei Monate in Bristol einen Sprachkurs gemacht, und irgendwo ist auch noch das Schulenglisch - aber ob ihr das reichen wird?

Damals - und heute

Erol und ich sind uns einig, dass Hüma keine großen Schwierigkeiten haben wird. Sie spricht die Sprache, und auch, wenn sie am Anfang eine Barriere wird überwinden müssen, wird sie doch bestimmt ganz schnell richtig gut werden auf Englisch; außerdem hat sie über ihren Mann Anschluss an die Uni und eine kunterbunte internationale Gruppe von anderen Unimitarbeitern und deren Familien. Mutterkindgruppen, Babymassage und Kleinkindschwimmen gibt es in Boston wie in [der Stadt, in der sie zurzeit in Deutschland lebt] und man lernt doch kaum so schnell Leute kennen wie über ein Kind. "Mensch", sage ich zu Erol, "guck mal, wie eure Eltern damals nach Deutschland gekommen sind, und wie Hüma und Yasin jetzt in die USA gehen."

Vier Generationen einer Familie

Und wieder einmal denke ich, dass das etwas ist, über das wir in all diesen Inte- und Migrationsdebatten viel zu selten sprechen: was viele derer, die zur ersten Generation der Neuhinzugekommenen gehören erreicht haben, wie schwer sie es hatten und wie sehr sie gekämpft haben, dass die, die danach kamen, es leichter hatten. Hümas Großvater kam damals hierher, hat sich kaputt gearbeitet und ist weg, sobald er es konnte. Hümas Eltern kamen nach, haben den größten Teil ihres Lebens hier verbracht, viel geopfert und es schwer gehabt, aber auch etwas erreicht, auf das sie stolz sein können, dass sie zu Hause nicht gehabt hätten. Zurück gehen würden sie nicht, sie sind nicht von hier - aber gehören hierher. Hüma und ihr Bruder, hier geboren, sind wie die von hier. Wie die hier und außerdem noch ein bisschen anders. Und Hümas Tochter? Hier geboren, wie die hier und außerdem noch ein bisschen anders. Und wenn sie erst in die USA gehen noch ein bisschen anders.

Wer weiß

"Manchmal mach ich mir Sorgen, dass wenn sie einmal dort sind, es ihnen so gut gefällt, dass sie nicht wiederkommen", sagt Hümas Mutter, "so wie du in London". Ich sage "nein" und "das glaube ich nicht" und "es ist ja nur für zwei Jahre" - aber wer weiß das schon. Wer weiß das schon...

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Für eine Akademikerin lassen Sie aber Objektivität in einem erschreckenden Ausmaß vermissen.

Lieselotte hat gesagt…

Ich muss Ihnen jetzt hier nicht wirklich den Unterschied zwischen wissenschaftlicher Analyse und persönlichem Bericht erklären - oder?!

Cassandra hat gesagt…

Auch Akademikerinnen haben ein leben, wir treffen alte Freunde wie alle anderen auch und das hinterläßt persönliche Eindrücke. Da unterscheiden sich Akademikerinnen kaum von Verkäuferinnen.

Und, objektiv betrachtet, gibt es eine ganze Reihe von Familien wie die von Hüma, die keine Integrations-Schlagzeilen machen obwohl sie es sollten: die hergekommen sind, gearbeitet haben und ganz ohne verpflichtenden Integrationskurs sich ein Leben aufgebaut haben. Schlagzeilen macht man damit nicht, das "Privileg" haben andere.